Angst (German Edition)
vielleicht weil ich ihn gestört hatte, aber da war nichts eindeutig Böses in seinem Blick, wie Brutalität oder Niedertracht, eher Überlebenswille, auch Angst. Ich weiß nicht, vielleicht habe ich mir das nachträglich zusammengereimt. Ich sah ihn nur ein paarmal aus der Nähe. Entschuldigen Sie, bitte, sagte ich schließlich. Kein Problem, sagte er mit einem Grinsen. Ich ging die Treppe hinauf und klopfte an unsere Wohnungstür. Ich war geschockt, anders kann ich es nicht sagen, ich hatte sofort das Gefühl, dass es ein Fehler war, diese Wohnung gekauft zu haben, obwohl Herr Tiberius nicht schrecklich aussah, nicht bedrohlich, wirklich nicht. Vielleicht ist ungewohnt das passende Wort, Herr Tiberius sah mir ungewohnt aus. Das ist sicherlich kein Grund, mit jemandem nicht in einem Haus wohnen zu wollen oder ihn zu fürchten, aber es war nun einmal so bei mir.
Wir wussten nichts von ihm. Er ging offenkundig nicht arbeiten, und wenn er einmal das Haus verließ, berichtete meine Frau, kam er kurz darauf mit Tüten vom Supermarkt zurück, nicht von einem der zwei Bio-Supermärkte, die es in unserem Viertel gibt, sondern von Penny. Die Gardinen seiner Wohnung waren stets zugezogen, abends auch die Vorhänge, dann sahen wir den Fernseher leuchten, manchmal hörten wir ihn auch. Es waren keine schlechten Filme, die er schaute, kein Schund, sondern Klassiker aus Hollywood, er hatte eine Vorliebe für Dustin Hoffman, ich habe wiederholt Dialogfetzen aus «Die Reifeprüfung», «Der Marathon-Mann», «Tootsie» oder «Rain Man» gehört.
In den ersten Monaten passierte nichts, und ich habe mich beruhigt. Er blieb nett zu meiner Frau, auch zu den Kindern. Einmal zeigte er meinem Sohn einen kurzen Tierfilm am Computer, meine Frau sah kein Problem darin, ich deshalb auch nicht. Als er Kekse gebacken hatte, stellte er einen Teller vor unsere Tür. Unter den Keksen lag ein Zettel: Auf gute Nachbarschaft. Wir aßen den Teller leer, Herr Tiberius konnte backen, keine Frage. Die Kinder begannen, ihn zu mögen. Wenn wir am Sonntag vorne im Wohnzimmer frühstückten, sahen wir ihn jedes Mal um neun Uhr das Grundstück verlassen, anderthalb Stunden später war er wieder da. Wir vermuteten, dass er in die Kirche ging, anders als wir, wir gehen nur zu Weihnachten, und tatsächlich sah ich ihn dann, als er «O du fröhliche» sang, so wie ich auch. Wir saßen unten, er oben, er lehnte über der Balustrade und sah uns an, als ich ihn entdeckte.
Im Januar erzählte mir meine Frau, dass Herr Tiberius nun häufiger für sie und die Kinder Kuchen backe. Komme sie nach Hause, würde er ihr das Gartentor mit dem Summer von seiner Wohnung aus öffnen. Als habe er auf mich gewartet, sagte meine Frau. Oft liege ein Blech mit Kuchen oder Pizza auf unserer Fußmatte. Sie fühle sich beobachtet. Soll ich mal mit ihm reden, fragte ich. Sie zögerte mit der Antwort, überlegte und sagte dann: Nein, er will ja nur nett sein. Heute werfe ich mir vor, dass ich nicht eingegriffen, ihn nicht zur Rede gestellt habe, vielleicht hätte das die Eskalation verhindert, wahrscheinlich aber nicht. Gleichwohl, ich hätte diesen Versuch machen müssen.
Am 11. Februar findet sich in meinem Tagebuch der erste Eintrag, der belegt, dass die Sache mit Herrn Tiberius auf ein gefährliches Gleis geraten war. Im hinteren Teil des Souterrains liegt eine Waschküche, die uns gehört. Es war schon länger so, dass Herr Tiberius aus seiner Wohnung kam, wenn er gehört hatte, dass meine Frau dort Wäsche aufhängte. Dann plauderte er mit ihr, freundlich, sogar fröhlich, meiner Frau war das zunächst nicht unangenehm, sie hatte Gesellschaft bei einer öden Tätigkeit. Auch am 11. Februar hängte sie Wäsche auf, vor allem Unterwäsche, und als sie einen ihrer Slips aus der Waschmaschine holte und glatt zog, sagte Herr Tiberius: Der sieht bestimmt gut bei Ihnen aus. Das war ein unmöglicher Satz, eine Unverschämtheit, widerwärtig. Meine Frau überging diesen Satz, hängte den Slip auf und die andere Wäsche auch. Herr Tiberius wechselte das Thema. Am Abend hat mir meine Frau davon erzählt, und ich hätte natürlich sofort ins Souterrain stürmen und Herrn Tiberius zurechtweisen müssen, aber das habe ich nicht getan. Ich war spät nach Hause gekommen, meine Frau lag schon im Bett, und sie hat mir das erzählt, als ich mich zu ihr gelegt hatte. Ich war entsetzt und sagte, dass ich am Morgen mit ihm reden würde, tat das aber nicht, mein nächster Fehler.
Am 19. Februar
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