Angst (German Edition)
fand meine Frau einen Brief auf der Fußmatte, einen Liebesbrief, den sie mir am Abend zeigte. Er war in einer sauberen, fast kindlichen Schrift geschrieben, die Orthographie stimmte. Herr Tiberius schrieb, dass sie sehr schön sei und sehr nett und dass er sie liebe, aber er sei ein Heimkind und neige deshalb zu überschwänglichen Gefühlen. Es war absurd, ich musste lachen. Ein hässlicher, fetter Zwerg hatte sich in meine schöne, kluge Frau verliebt. Wahrscheinlich habe ich es genau so zu meiner Frau gesagt. In den sieben Monaten, die nun folgten, haben wir vieles gedacht, gesagt und getan, was mit unserer Vorstellung von uns selbst kollidierte, mit dem, was ich unsere aufgeklärte Bürgerlichkeit nenne. In diesem Moment fing es an, mit der Sprache, mit Dünkel.
Ich fragte mich, was es bedeutete, dass er ein Heimkind gewesen ist, ob er damit besonders gefährlich war, weil er das schlimme Leben kennengelernt hatte, oder besonders ungefährlich, weil keine Familie hinter ihm stand. Eine Antwort gab ich mir nicht, konnte ich mir nicht geben, weil ich keine Erfahrungen mit Heimkindern hatte, aber ich war ein bisschen beruhigt, weil Herr Tiberius offenbar reflektieren konnte, dass er sich zu unangemessenen Worten verstiegen hatte. Der Hinweis auf seine Herkunft schien mir eine Entschuldigung zu sein. Ich glaubte, mit einem solchen Mann fertigwerden zu können. Ich ging mit dem Brief in den Keller und klopfte an seine Tür. Nichts rührte sich, es war still in seiner Wohnung, ich hörte keinen Fernseher. Ich klingelte, ich rief seinen Namen, nichts. Ich war mir sicher, dass er daheim war, er ging abends nie aus. Er versteckte sich also, hatte Angst. Auch das beruhigte mich. Ich habe Herrn Tiberius von Anfang an unterschätzt.
22. Februar: Auf unserer Fußmatte liegt ein Buch für Rebecca, «Der große Gatsby» von F. Scott Fitzgerald. Wir rätseln, ob eine Botschaft damit verbunden ist. Unsere Erinnerung gibt nichts her. Ich lese die halbe Nacht in dem Buch, finde aber nichts, was ich mit uns und Herrn Tiberius verknüpfen kann.
10. März: Rebecca ruft mich im Büro an. Ich höre, dass sie aufgeregt ist, erschüttert. Herr Tiberius hat ihr wieder einen Brief geschrieben. Er habe, als er an unserer Tür vorbeigekommen sei, von ihr zufällig die Worte «Hose runterziehen» gehört. Das könne ein Hinweis auf sexuellen Missbrauch der Kinder sein. Er selbst sei «als Heimkind» sexuell missbraucht worden. Er sei deshalb «empfindlich auf diesem Ohr, vielleicht zu empfindlich». Ich sage, dass ich sofort nach Hause kommen und mit ihm reden werde, in aller Deutlichkeit, sage ich. Das habe ich schon gemacht, sagt Rebecca, ich habe ihn zusammengeschrien. Das war sicherlich die Hölle für Herrn Tiberius.
Heute beschämen mich diese Worte. Damals schrieb ich das leichtherzig hin, weil ich nur zu gut wusste, wie das ist, wenn meine Frau einen Schreianfall hat.
Ich komme trotzdem, sagte ich. Meine Sekretärin rief mir ein Taxi, ich stürzte runter auf die Straße, wartete ungeduldig. Im Taxi fragte ich mich, ob ich Herrn Tiberius schlagen soll, aber ich habe, seitdem ich zehn war, niemanden mehr geschlagen, außer meinen kleinen Bruder bei Prügeleien, die nicht ernst waren. Ich finde nicht, dass man Konflikte mit Gewalt lösen sollte, obwohl meine Zeit in der Friedensbewegung längst vorbei ist. Ich würde ihn anschreien, dachte ich im Taxi. Allerdings habe ich noch nie jemanden angeschrien, nicht einmal meine Kinder. Wenn es schwierig wird, vereise ich, Ruhe, Kälte, laut werden liegt mir nicht. Aber vielleicht kann ich mich zu einem Ausbruch bewegen, dachte ich, zu einer kleinen Schreierei, vielleicht macht das Eindruck auf Herrn Tiberius. Fatalerweise war ich, trotz meiner Wut wegen dieser Schweinerei, ein bisschen beruhigt. Er ist ein Spinner, das ist nun klar, schrieb ich in mein Tagebuch. Wer von Hose runterziehen auf sexuellen Missbrauch kommt, ist ein Spinner. Diese Worte fallen in einer Familie mit kleinen Kindern ein Dutzend Mal am Tag. Niemand, der uns ernsthaft Gewalt antun will, kommt mit einem solch lächerlichen, kruden Vorwurf. Aber können wir mit einem Mann unter einem Dach leben, der solche Gedanken hegt? Ist das nicht zu widerlich? Ich sah keine Gefahr, aber dauerndes Unbehagen.
Zu Hause angekommen, ging ich erst in unsere Wohnung. Ich umarmte meine Frau, meine Kinder, die nichts mitbekommen hatten, die sich wunderten, ihren Vater an einem Nachmittag zu sehen. Meine Frau hatte sich beruhigt. Herr
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