Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kurbjuweit
Vom Netzwerk:
kriegen wir ihn ganz schnell aus dem Haus. Aber wenn ihm die Polizei glaubt, sagte meine Frau. Sie wird ihm nicht glauben, sagte ich, das ist doch absurd. Dann war der Akku leer. Ich hatte zwei Stunden Wartezeit bis zum Flug nach Paris, die erste Zeit verbrachte ich damit, nach einem Laden zu suchen, in dem es einen Adapter für die Steckdosen von Singapur gab. Meinen Universaladapter, der auf so ziemlich alle Steckdosen der Welt passt, hatte ich dummerweise in den Koffer gelegt, so viel zu meinen Qualitäten als Weltbürger. Ich eilte die Ladenzeilen entlang, Parfüme, Kleidung, Elektrogeräte, Alkohol, alle großen Marken, die es gibt, und schließlich fand ich einen Adapter, dann aber keine Steckdose. Ich suchte einen Waschraum auf und schloss mein Handy an einer Steckdose für Rasierer an. Männer kamen und gingen, ich hörte sie pinkeln, manche seufzten dabei; sie wuschen sich die Hände neben mir, müde Augen in den Spiegeln. Ein Mann sah mich verwundert an. Was sah er? Einen Kinderschänder?
    Meine Erleichterung war verflogen. Was ist, wenn ihm die Polizei glaubt, hatte meine Frau gefragt. Das war ja nicht unmöglich, beim Thema Kindesmissbrauch waren sie hellhörig heutzutage, und zu Recht. Dann spielte sich ein Film in meinem Kopf ab, ein Film, den ich seither zigmal gesehen habe, in einer Schärfe und Brillanz, als hätte ich diesen Film im Kino gesehen, aber das war nicht so, es gab ihn nur in meinen Gedanken. Er begann mit einer Kamerafahrt, eine amerikanische Vorstadt, seltsamerweise war es Amerika, aber vielleicht auch nicht seltsamerweise, weil unsere Filmbilder fast alle aus Amerika kommen und wir uns deshalb in amerikanische Städte und Landschaften hineinträumen, wenn wir uns als Hauptdarsteller in Filmen sehen. Es war eine dieser sauberen Vorstädte, in der alle Häuser gleich aussehen, gleich schmuck, gepflegter Rasen, davor Autos der Mittelklasse. Das Grausame an solchen Vorstädten ist, dass dort, in dieser Gleichförmigkeit, die Abweichung besonders auffällt. Hier wohnen anständige Menschen, und wenn einer nicht anständig ist, dann fällt er hier so auf wie nirgendwo sonst. Die Kamera stoppt vor einem der Häuser, lugt durch das Fenster und sieht einen heiteren Alltag, sieht Intaktheit. Die Familie sitzt beim Frühstück, eine schöne Frau, ein seriöser, fleißiger Mann, zwei goldige Kinder. Das sind wir. Der Stalker erscheint, schleicht um das Haus, ein finsterer Kerl, hässlich, abgerissen, ein Böser, der das Gute herausfordert. Anfangs scheint die Familie unverwundbar, doch dann dreht sich die Geschichte, ein übereifriger Sozialarbeiter, ein korrupter Staatsanwalt, ein sensationsgieriger Journalist, eine missgünstige Öffentlichkeit. Am Ende sind die Kinder im Heim, der Vater sitzt im Gefängnis, die Mutter geht auf den Strich, um überleben zu können. Das letzte Bild: das Haus in der Abenddämmerung, ein Schild steckt im Rasen, For Sale. Die Lüge bei diesem Film war das Wort intakt. Meine Familie war nicht intakt.
    Mein Handy hatte wieder etwas Saft, ließ sich wenigstens einschalten, und ich wählte die Nummer meiner Frau und sagte, dass wir keine Kinderschänder seien und dass jeder das wisse und wir vor nichts Angst haben müssten. Wo bist du, fragte meine Frau. Ich weiß nicht, ob sie das Pinkeln oder das Wasser in den Waschbecken gehört hat. Auf dem Männerklo, sagte ich. Wieso rufst du mich vom Männerklo aus an, fragte Rebecca. Ich erklärte ihr, dass der Akku leer sei und ich nicht ohne Stromanschluss telefonieren könne. Hab keine Angst, flehte ich, ein Mann sah mich an, wahrscheinlich ein Deutscher, ich rufe dich in zehn Minuten wieder an, sagte ich, legte auf und wartete, wartete, bis das Handy ein bisschen mehr aufgeladen war. Ich zog den Stecker raus, packte alles ein, stürmte hinaus und rief meine Frau an. Sie ging nicht ans Telefon, war auch nicht auf dem Handy erreichbar. Wie in Trance lief ich durch den Flughafen, wieder vorbei an den Luxusläden, und hörte die Lautsprecheransagen, Flüge nach Kuala Lumpur, Bangalore, Melbourne, Los Angeles, Phnom Penh.
    Ich war schon einmal in Singapur, vor drei Jahren, als Stefan dort arbeitete, und bei einem großen Abendessen im Raffles Hotel war ich bald verstimmt, weil sich all die Europäer, die sich hier trafen, all die Bürger westlicher Demokratien, so wohl fühlten in Singapur, wo die Familie Lee Kuan Yews seit Jahrzehnten autoritär regierte, wo es drakonische Strafen gab, Stockschläge, Hinrichtungen. Aber beim

Weitere Kostenlose Bücher