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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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das enthüllt hat, erzähle ich meine Geschichte als vorläufige Geschichte. Es sind noch Entdeckungen möglich, so wie sich das Bild von Julius Cäsar im Laufe der Forschungen auch immer wieder ändert.
    Was mich in letzter Zeit mehr besorgt, ist die Tatsache, dass es Erinnerungen geben kann an Dinge, die nicht passiert sind. Zum Beispiel mache ich mir manchmal Sorgen, eines unserer Kinder könne irgendwann auf den Gedanken kommen, es sei von meiner Frau oder von mir sexuell missbraucht worden. Den Verdacht gibt es ja nun einmal in unserer Familiengeschichte, auch wenn er von dem problematischen Herrn Tiberius geäußert wurde. Aber Paul oder Fee könnten daran anknüpfen und sich irgendwann, weil es ihnen schlechtgeht, einbilden, sie seien missbraucht worden. Ich kann diese Überlegungen nur abbrechen, sie sind zu schrecklich.

Nachdem meine Frau mit den Kindern aus Lindau zurückgekehrt war, dauerte es zwanzig Stunden, bis sie wieder einen Brief auf dem Sims im Hausflur fand. Sie rief mich im Büro an und sagte, Herr Tiberius habe uns mitgeteilt, dass er Mails an RTL, Sat.1 und «Bild» geschickt habe. Wir wüssten schon, wofür die sich interessieren würden, schrieb er. Meine Frau ist mit dem Brief in der Hand ins Souterrain hinabgestiegen und hat Herrn Tiberius zur Rede gestellt, wie sie sagte, wahrscheinlich lautstark. Er habe sie nur frech angegrinst. Ich brachte den Brief zu unserer Anwältin und eine Kopie zu Frau Kröger vom LKA 41, die beide sagten, dass dies nicht viel ändern würde. Aber für mich änderte sich eine Menge, für mich begann die beobachtete Phase, wie ich das in der Rückschau nenne. Wenn ich abends in unsere Straße einbog, erwartete ich, dort eine Reihe von Ü-Wagen zu sehen, Reporter mit Mikrophonen und Kameras. In Wahrheit kamen keine Ü-Wagen, und trotzdem war ständig eine Kamera bei mir, meine eigene, die in meinem Kopf. Ich begann, mein Leben durch eine Kamera zu sehen, es war das Leben eines Nicht-Kindesmissbrauchers. Wenn ich mit Paul und Fee auf dem Spielplatz war, verhielt ich mich wie ein Mann, der seine Kinder nicht missbraucht. Ich weiß gar nicht, wie man das macht, ich könnte das nicht nachspielen, ich verhielt mich normal, so wie immer, allerdings nun in dem heiligen Bewusstsein, normal zu sein, meine Kinder nicht zu missbrauchen. Ich sah mich selbst mit den Augen von Polizisten, von Detektiven, von Journalisten, von Mitarbeitern des Jugendamts und wer immer noch zum höllischen Personal meiner Wachträume gehörte und versuchte unter deren gestrengen Blicken zu bestehen. Ich war ordnungsgemäß bis zur Betulichkeit, ich machte mit schmerzlicher Akkuratesse alles gnadenlos richtig, ließ nie ein Bonbonpapier fallen, aber das hatte ich vorher auch nicht getan, wegen meines Umweltbewusstseins. Jetzt machte ich es als Mann, der seine Kinder nicht missbraucht. So wurde aus meinem Alltag, meiner Normalität endgültig eine Aufführung. Ich spielte Harmlosigkeit, ich spielte Nicht-Kindesmissbrauchersein. Das bewusste Nicht-Sein ist allerdings auch ein Sein, deshalb ist das bewusste Nicht-Kindesmissbrauchersein auch ein Kindesmissbrauchersein. So verstehe ich Logik. Und so habe ich es erlebt. Beim Vergewissern, was ich nicht bin, tauchten in meinem Kopf überfallartig Bilder auf, die da nie waren. Ich sah das, was ich nicht mit meinen Kindern tat, nie getan hatte, nie tun würde. Ich ergänzte mein Bewusstsein um die Negation, ungewollt. Mein Kopf wurde zur Hölle, ich war nicht mehr ich, sondern minus-ich, mein eigenes Gegenteil. Ich hatte Herrn Tiberius bis dahin als den Fremden bekämpft, wenn man da schon von Kampf reden kann, als den Mann von unten, den aus der Souterrain-Welt, in wütenden Momenten: das Schwein. Das war vorbei, jetzt saß er in mir drin. Ich kämpfte gegen mich, gegen die Gedanken und Bilder, die mich heimsuchten. Ich sagte das nicht einmal meiner Frau, weil ich mich schämte.
    Ich hatte mir mühsam das Bewusstsein von Bürgerlichkeit erarbeitet. Wenn Waffen Kindheit und Jugend geprägt haben, ist das nicht selbstverständlich, Waffen haben nichts Bürgerliches, sie waren eher Sache des Adels oder des Banditen. Die Waffe, die Bürger eine Zeitlang trugen, der Spieß, ist heute ein Symbol der Lächerlichkeit. Der Spießbürger ist daraus entstanden, der Spießer. Er sorgt sich vor allem um seinen guten Ruf und ist darauf erpicht, im Ruf der anderen Schäden erkennen zu können. Dermaßen übel ist der Bürger nicht, aber sein Ruf ist ihm ebenfalls

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