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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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großen Glück einander hätten und nicht wüssten, was wir ohne einander tun sollten. Es wäre wohl wieder so gekommen in jener Nacht, hätte nicht meine Frau eingegriffen, die mich einfach abholte und mit ins Bett nahm. Umarmungen. Meine Frau und mein Bruder. Mein Bruder und ich. Alter, sagte er.
    Rebecca und ich hatten keinen Sex in jener Zeit, Herr Tiberius in seinem Souterrain machte unsere Libido kaputt, nehme ich an. Bei einer meiner Patrouillen hatte ich eine Leiter in den Büschen unter unserem Schlafzimmer gefunden. Er hatte uns also beobachtet, hatte meine Verlorenheit gesehen, die Nacktheit meiner Frau, ihr schönes, elegantes Kommen, vielleicht hatte er auch meine vulgären Sätze gehört. Unser Sex hatte sich unter seinen Blicken abgespielt, und den Ekel, den wir ihm gegenüber empfanden, übertrugen wir auf unseren Sex. Er war kontaminiert, von gierigen Blicken vergiftet. Wir wollten ihn nicht mehr.
    Ansonsten hatten wir in der Tiberius-Zeit kein Problem miteinander, auf den ersten Blick. Ich wich Rebecca nicht aus, wir nahmen uns in den Arm, um uns zu trösten, wir redeten viel miteinander, fast nur über unseren Kampf. Das gab unserer Ehe den Anschein von Intaktheit. Wir nahmen Herrn Tiberius einfach auf in unsere Sowieso-Welt, sonst änderte sich nichts. Aber dann passierte etwas, das mich noch immer verstört, wenn ich daran denke. Eines Abends, vielleicht drei oder vier Wochen nach Rebeccas Rückkehr aus Lindau, fand ich mich, ich kann es nicht anders ausdrücken, im Luna wieder. Herr Tiberius hatte sich länger nicht gemeldet, wir hatten schon darüber gesprochen, dass er vielleicht aufgegeben habe, dass wir nichts mehr zu befürchten hätten von ihm, aber es blieb ja noch die Unmöglichkeit, mit ihm unter einem Dach zu leben, unser Kampf war nicht zu Ende, und natürlich blieb Herr Tiberius eine Bedrohung für Rebecca und die Kinder. Trotzdem ging ich an jenem Abend ins Luna, ich glaube, ich habe gar nicht darüber nachgedacht, ich folgte einem Automatismus, und dann saß ich eben da, machte Skizzen, hielt Selbsteinkehr und aß sechs Gänge. Erst zwischen Gang vier und fünf, zwischen in Mumme geschmorter Ochsenbacke mit Marone und Chicorée und Fondue Mont d’Or mit Walnussbrot, Birne und Sellerie fiel mir ein, dass ich meine Frau und meine Kinder damit einer Gefahr aussetzte, beruhigte mich aber sofort mit dem Gedanken, dass Herr Tiberius meine Familie schon nicht in unserer Wohnung angreifen würde. Ich fragte mich, ob der Bauherr, für den ich gerade ein Haus entwarf, eine Reminiszenz an Bruno Taut schätzen würde, und wollte ein Fenster zeichnen, das um eine Ecke herumreicht. Ich riss ein Blatt von meiner Endlosrolle Skizzenpapier, und das ist jedes Mal ein hässliches Geräusch, bei dem die Leute an den Nachbartischen ihre trauten Gespräche unterbrechen und sich nach mir umsehen, dem Mann, der so seltsam alleine vor seinem Grießflammeri mit Dattel-Ingwer-Marmelade und Eis von brauner Butter sitzt. Mir war das peinlicher als sonst, und in meinem Kopf tauchte plötzlich die Frage auf, ob ich womöglich darauf hoffte, dass Herr Tiberius mein Eheproblem für mich erledigt. Ich legte den Löffel weg, die Dattel-Ingwer-Marmelade schmeckte nicht mehr, ich begann eine große Schelte gegen mein Gehirn, das einen Gedanken von solcher Abwegigkeit produziert hatte. Ich beruhigte mich damit, dass man manchmal Dinge denkt, für die es gar keine Grundlage gibt, bodenloses Denken also. Aber letzten Endes wusste ich nicht wirklich, ob diese Annahme meiner Not entsprang oder wissenschaftlich erwiesen war. Ich schob das weg, aß den Nachtisch aber nicht zu Ende, nahm auch keinen Digestif und keinen Espresso, sondern fuhr nach Hause, mit Herzklopfen. Herr Tiberius sah fern, das beruhigte mich schon, da ich ihn nicht für so kaltblütig hielt, dass er sich nach einem Dreifachmord einen Film ansehen würde. Meine Kinder lagen atmend im Bett, meine Frau schnarchte leise, nirgendwo Blut. Ich putzte mir die Zähne und schwor dabei, dass ich meine Familie nie mehr im Stich lassen würde. Es sollte das letzte Mal gewesen sein.
    In den folgenden Tagen war ich wieder im LKA 41, wieder bei der Anwältin, nichts tat sich, wir kamen nicht weiter. Am 2. Juni rief mich meine Frau im Büro an, ihre Stimme noch höher als sonst, schrill. Unsere Tochter hatte Besuch von ihrer Freundin Olga, sie hatten eine Stunde miteinander gespielt, dann wollte Rebecca mit den Mädchen aufs Land fahren. Als sie das Haus verließ, kam

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