Angst (German Edition)
geöffnet war. Der Black Print braucht unbedingt Zeit, und ich habe mit den Jahren ein gutes Gefühl dafür entwickelt, wie das Tempo eines Tisches ist. Dieser hier war mittelschnell. Zwei kräftige Trinker, eine Nipperin, der Rest rege dem Black Print zusprechend, die meisten unterschätzen die Wucht der 14,5 Prozent. Dann war von Politik die Rede, und ich sagte jenen Satz, auf den die Journalistin so spitz reagierte. Nun musste ich eine Definition von Bürgerlichkeit liefern, aber das fiel mir nicht schwer, weil ich mir viele Gedanken zu diesem Thema gemacht habe. Der Wunsch nach Bildung gehört auf jeden Fall dazu, sagte ich, damit auch die Arbeit an der eigenen Bildung. Gelassenheit ist ebenfalls wichtig, fuhr ich fort, wer bürgerlich ist, betrachtet die Welt nicht aufgeregt, nicht hysterisch. Geld gehöre dazu, dominiere aber nicht alles, ein wahrhaft bürgerlicher Mensch halte es für eine Zumutung, sein Leben unter das Diktat von Zahlen zu stellen, also Aktienkurse, Dividenden, Zinsen. Familie müsse sein, wobei ich mit Familie jede Art von dauerhafter Bindung meine, sagte ich. Einerseits solide Lebensführung, aber auch die Möglichkeit einer Black Box, auf deren Verschlossenheit peinlich genau zu achten ist. Ein Bürger zeige zudem Interesse für das, was in der Welt geschieht, vor allem für Politik, weil er wisse, dass in der Politik das entsteht, was sein Leben bestimmt. Sensibilität für Fragen der Freiheit. Das war mein letzter Punkt, wohlüberlegt an den Schluss gesetzt, lässig, aber nachdrücklich gesagt. Sobald ich fertig war, herrschte Schweigen in unserem Esszimmer. Ich nahm einen Schluck Black Print, mein kleiner Bruder, der mich die ganze Zeit aufmerksam, aber etwas mitleidig angeschaut hatte, hob sein Glas und deutete ein Zuprosten an. Jetzt sagte die Journalistin: Für mich hat Bürgerlichkeit vor allem mit Tradition zu tun. Ich wusste, dass ihr Vater in Regensburg ein kleines Textilkaufhaus von seinem Vater übernommen und zu einem mittelgroßen Textilkaufhaus ausgebaut hatte. Was sollte ich sagen? Mit dieser Definition war ich ausgeschlossen, das wusste die Journalistin, nachdem sie meine Geschichte über unseren Vater gehört hatte, und ich war zu getroffen, um schlagfertig reagieren zu können. Ist das nicht eher ein feudales Prinzip, sprang mir meine Frau bei, die natürlich wusste, was der Satz der Journalistin in mir anrichten konnte. Ist nicht Bürgerlichkeit Erwerb und Adel Erbe, ergänzte meine Frau ihre eigene Frage. Das interessierte nun den ganzen Tisch außer der PR-Frau, die ständig auf ihrem Handy Kurzmitteilungen schrieb und las. Ich war zu verärgert, um der Diskussion wirklich zu folgen.
Um zwei Uhr gingen die letzten Gäste, alle hatten sich für einen gelungenen Abend bedankt. Warum lässt du es nicht einfach, fragte mein kleiner Bruder, als wir in der Küche saßen und ziemlich benommen waren, weniger vom Wein als vom Duft der Blumen, die unsere Gäste meiner Frau mitgebracht hatten und die auf vier Vasen verteilt auf dem Küchentisch standen. Du weißt doch, wie es war, sagte mein kleiner Bruder. Aber so, wie es war, ist es nicht mehr, jedenfalls nicht bei mir, sagte ich. Es hört nie auf, sagte er, wie alt musst du noch werden, um das einzusehen, zu Hause bleibt eben zu Hause. Grinsen. Mein kleiner Bruder kann fürchterlich dämonisch grinsen, und das kommt weniger aus seinem Gesicht, das freundlich und ewig bubenhaft ist, es entsteht im Zusammenspiel mit jener Gestalt an seinem Hals, seinem Klingsor, der das Grinsen meines Bruders aufzunehmen scheint und mit seiner eigenen, bläulich schimmernden Dämonie verknüpft. Ich sah meinen Bruder an, das war jetzt genau die Stimmung, die wir brauchten, um zu streiten, um uns unsere jeweiligen Leben höhnisch unter die Nase zu reiben, bis wir kurz davor waren, uns zu prügeln. Mein Bruder über mich: verbürgert, angepasst, traumlos, risikoscheu, kleinmütig. Ich über meinen Bruder: verantwortungslos, pseudowild, kindisch, schmarotzerhaft, irre. Wobei natürlich stimmt, dass ich all das auch gerne wäre. Und er das andere, manchmal jedenfalls. Richtig schlimm wurde es, wenn wir uns gegenseitig vorwarfen, dass wir unsere Eltern schlecht behandelten. Ich zu ihm: Du beutest sie aus. Er zu mir: Du könntest dich mal mit Papa versöhnen. Früher haben wir uns regelmäßig geprügelt, um einen Schlussstrich unter unsere Schwierigkeiten zu ziehen, um uns wieder lieben zu können und zu sagen, dass wir zum Glück, zu unserem
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