Angst (German Edition)
nicht ständig Kratzer und Dellen davontrugen. Und was fordern wir, fragte ich in die Runde. Alle Waffen verkaufen, sagte mein kleiner Bruder. Eine Nulllösung also, sagte ich. Schlaumeier, sagte meine Schwester. Vielleicht fangen wir erst einmal mit der Hälfte an, sagte meine Mutter. Darauf haben wir uns geeinigt.
Ich schlug vor, dass ich die Verhandlungen mit meinem Vater bei einem Spaziergang im Grunewald führen würde. Das war keine Anspielung auf den berühmten Genfer Waldspaziergang der Unterhändler Paul Nitze, USA, und Juli Kwizinski, UdSSR, die sich dabei auf eine weitgehende Abrüstung in Europa geeinigt hatten, das aber in ihren Lagern nicht durchsetzen konnten. Dieser Waldspaziergang fand erst 1982 statt, also nach unseren Abrüstungsverhandlungen in Frohnau. Ich erinnerte mich an den guten Geist jener Spaziergänge mit meinem Vater, bei denen er abenteuerliche Reisen für sich und mich entworfen hatte. Die anderen waren dagegen, sie wollten dabei sein, meine Schwester traute mir wahrscheinlich zu, dass ihre Beiträge zum Frieden allzu groß ausfallen würden, wenn sie mich nicht kontrollierte. Wir verständigten uns darauf, ein festliches Abendessen zu machen.
Es ging schief. Ich hatte eine lange Rede ausgearbeitet mit vielen Bezügen zur Weltlage, aber sie erreichte meinen Vater nicht. Als er gemerkt hatte, worum es uns ging, sagte er nur ein Wort: ausgeschlossen. Wir insistierten freundlich, aber er aß nur schweigend und mit finsterer Miene seinen Putenschenkel, bis er Messer und Gabel hinwarf, aufsprang und davonstürmte. Er hat bis heute nicht eine Waffe verkauft, das heißt, jetzt kann er ohnehin nicht mehr über seine Waffen verfügen, weil die Polizei sie sämtlich eingezogen hat.
Ich wohnte nach diesem Desaster noch ein knappes Jahr zu Hause, bis ich mein Abitur gemacht habe, dann bin ich nach Bochum gegangen. Mit meinem Vater habe ich praktisch nicht mehr gesprochen.
Ich habe später oft versucht, eine Bilanz dieser Jugend zu ziehen, aber zu einem klaren Ergebnis bin ich nicht gekommen. Natürlich gab es schöne Seiten, Freunde, die ersten Freundinnen, ich hatte Glück mit Menschen, ich war ein guter Schüler und fand eine Menge Anerkennung. Aber über alldem liegt der Schatten jener ängstlichen Stunden, in denen ich dachte, mein kleiner Bruder oder ich könnten erschossen werden. Ich hatte eine glückliche Kindheit, aber keine glückliche Jugend. Und mir fehlte ein Vater, das ist das Schlimmere, diese Verschlossenheit, diese Missachtung. Allerdings habe ich eine Theorie, nach der sich frühes Unglück später in Glück verwandelt. Ich wollte immer weg, weg von diesen Waffen, weg von diesem Vater. Deshalb hatte ich Ziele, ich war ehrgeizig und bin es noch. So konnte ich ein erfolgreicher Architekt werden. Diese Theorie versöhnt mich, zum Teil jedenfalls, mit meiner Jugend, aber nun macht sie mir auch Sorgen: Was ist mit meinen Kindern, die Eltern haben, die alles tun, damit sie glücklich sind? Kann man auch frühes Glück später in Glück umsetzen? Ich weiß es nicht.
Kürzlich ist mir meine Jugend begegnet, und seitdem ist es eine andere Jugend. Ich habe meine eigene Geschichte lange als Geschichte der Gewaltfreiheit erzählt. Bis ich in einem Münchener Hotel zufällig Saif traf, einen Schulfreund, den ich aus den Augen verloren hatte. Wir haben uns neu angefreundet, wir haben natürlich viel über früher geredet, und irgendwann hat er mich gefragt, ob ich wisse, was ihn schockiert habe an mir. Ich wusste es nicht. Er sagte, dass ich einmal vor unserem Klassenzimmer mit dem Schliephake gekämpft habe, ob ich mich noch an den Schliephake erinnern könne? Ich konnte mich nur noch schwach an den Schliephake erinnern, seinen Vornamen wusste ich nicht mehr, auch Saif nicht. Du hast ihn besiegt, sagte Saif, er lag unter dir, und dann hast du seinen Kopf genommen und ihn mehrmals auf den Boden geschlagen. Das kann nicht sein, sagte ich. Es war so, sagte Saif. Ich habe keinen Grund, Saif zu misstrauen, es wird so gewesen sein. Mich erschrecken daran zwei Dinge: dass ich das getan habe und dass ich es vergessen habe. Wenn man Dinge vergessen kann, die das Bild von einem stark verändern würden, welche wahren Sätze kann man dann noch über sich sagen? Man ist sich selbst gar nicht so richtig bekannt.
Was ist also meine Geschichte? Vielleicht hat mein Vater ja doch in einem seiner cholerischen Anfälle einen Revolver gegen meinen Kopf gehalten und gedroht abzudrücken. Seitdem Saif mir
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