Angst (German Edition)
Von der Polizei hörte ich nichts, meine Anwältin konnte keine «Go-Order» erwirken, wie ich bei einem Telefongespräch erfuhr, und der Mircea in mir war dann doch nicht erwacht. Nicht einmal Herr Tiberius ließ etwas von sich hören. Ich dachte schon, dass ich einen Krieg führe, den es gar nicht gibt. Als ich meiner Frau nach zehn Tagen die Lage in aller Ehrlichkeit geschildert hatte, sagte sie, dass es vielleicht wirklich vorbei sei. Vielleicht ist er zur Besinnung gekommen, sagte sie. Wir entschieden, dass sie und die Kinder am folgenden Tag zurückkehren sollten. Wir würden eben aufpassen. Meine Frau sagte, dass sie keine Angst vor Herrn Tiberius habe, nur Angst um Fee und Paul. Ich verstand sie gut, nichts macht uns so verletzlich und damit so ängstlich wie unsere Kinder.
Ist es nicht furchtbar, dass wir nie ohne Ängste leben können, ob als Kind oder als Erwachsener? Neben der Angst vor meinem Vater war der Atomkrieg die große Angst meiner Jugend. Man musste nicht viel wissen über das Wettrüsten, nichts begreifen, für den Schrecken reichte ein einziger Satz: Nach einem nuklearen Angriff ist alles kaputt, und alle sind tot. Da musste ich nur aus dem Fenster des Busses schauen und mir vorstellen, dass keines dieser Häuser mehr stehen würde, musste mich nur in meiner Schulklasse umsehen und mir vorstellen, dass keines dieser Kinder mehr leben würde, und sofort brach das große Grausen aus. Der Atomkrieg war der abrupte Wechsel vom verheißungsvollen Leben zum Nichts, und niemand hatte eine Chance. Die üblichen Gedanken, mit denen ich sonst Ängste bekämpfte, versagten hier. Wenn mich im Flugzeug Panik vor einem Absturz überfiel, dachte ich, dass einer überleben werde, und der wäre ich. Es gab solche Fälle, das war mir bekannt. Beim Atomkrieg, hieß es, käme niemand mit dem Leben davon, und es war nicht einmal wünschenswert, verschont zu bleiben. Was sollte ich alleine in einer verstrahlten Wüstenei? Ratten groß wie Hunde. Ich kannte das Wort Mutation noch nicht, aber ich hatte aufgeschnappt, dass nukleare Strahlen fürchterliche Wesen hervorbringen können. Dann der Krebs. Die Angst vor dem Atomkrieg war die Angst vor dem Tod und die Angst vor dem Leben. Das machte es so perfide. Ich lag nachts oft lange wach und malte mir das Verschwinden der Welt aus, also auch mein eigenes.
So wurde ich Pazifist, wenn ich es nicht schon durch die Waffen meines Vaters war. Mit sechzehn oder siebzehn Jahren fing ich an, wie besessen Bücher und Artikel zur Abrüstung zu lesen. Ich kannte bald die Abkürzungen und Kennwörter jener seltsamen Zeit, SALT I, MIRV, Flexible Response, Gleichgewicht des Schreckens, Minuteman, SALT II, SS 20, Pershing II, Nulllösung, was man damals noch mit zwei «l» schrieb. Ich klebte eine Friedenstaube, weiß auf blauem Grund, an die Tür meines Zimmers, außen, damit mein Vater sie sehen konnte. Er war ewig nicht mehr in meinem Zimmer gewesen. Wenn ihm meine Musik zu laut war, Reggae damals, schrie er von der Treppe hinauf zu mir, und wenn die Musik so laut war, dass ich ihn nicht hören konnte, riss er die Tür zu meinem Zimmer auf und schrie dann noch einmal, aber er kam nicht herein.
Als die Friedensbewegung im Oktober 1981 zu einer Demonstration gegen den Doppelbeschluss der Nato in Bonn aufrief, fuhr ich mit einigen Freunden dorthin. Wir standen kurz vor dem Abitur und hatten einen Antrag gestellt, dass man uns vom Unterricht befreien möge, da es um das Überleben der Menschheit gehe. Die Lehrerschaft war gespalten in dieser Sache, die einen, die ebenfalls gegen die Nachrüstung der Nato waren, wollten uns freigeben, die anderen, die Helmut Schmidt folgten, waren dagegen. Der Schulleiter entschied, dass wir am Tag der Demonstration am Unterricht teilnehmen mussten, aber ein Lehrer, der auf unserer Seite stand, sagte, dass ein Fernbleiben nicht geahndet würde, so sei es beschlossen worden.
Wir fuhren mit der Bahn. Die Grenzschützer der DDR, die unsere Ausweise kontrollierten, waren so freundlich wie noch nie, keine Durchsuchungen, keine Garstigkeit. Zum ersten Mal sah ich diese Frauen und Männer in den grauen Uniformen lächeln, und als sie weg waren, wurde es still in unserem Abteil. Wir hatten in den Blättern von Springer gelesen, dass wir die fünfte Kolonne des Ostblocks seien, dass wir Breschnew dabei helfen würden, die Weltherrschaft zu übernehmen. Wir lachten, wir hatten keine Sympathien für den real existierenden Sozialismus. Wir waren zu oft in
Weitere Kostenlose Bücher