Angst (German Edition)
in denen wir nicht dabei sind, vollkommen anders sein, als wir es uns ausmalen. Das macht unser Leben so prekär. Im Prinzip ist ohne uns alles möglich, jeder Betrug, jede Infamie, jedes Verbrechen, selbst, ja, verdammt, Kindesmissbrauch. Ich fragte mich, was meine Frau tat, wenn ich nicht im Haus war, und dabei tauchten unerträgliche Bilder auf. Wegen dieser Bilder wünschte ich Herrn Tiberius den Tod, ja, so war das, jetzt ist es ausgesprochen. Ich redete vom Rechtsstaat, und das war kein leeres Reden, aber in manchen Momenten wünschte ich Herrn Tiberius den Tod. Es konnte ja ein Lastwagen sein, der ihn zufällig überfuhr, wenn er mit seinen Plastiktüten die Straße überquerte. Er hatte diese Bilder in mir entstehen lassen, er hatte meine Gedanken vergiftet. Aber natürlich hätte ich mir sicher sein sollen, dass es keine Realität zu diesen Bildern gab, weil ich meiner Frau das nicht zutraute und weil ich wusste, dass seine Beschuldigungen gegen mich jeder Grundlage entbehrten. Also würde das Gleiche auch für Rebecca gelten. Aber war ich mir sicher? Sagen wir so: Ich zwang mich in diese Sicherheit.
Während der späten Tiberius-Zeit sollte ich auf einem Einweihungsfest für ein Haus eine Rede halten. Ich mache das nicht gern, aber ich schlage mich in der Regel ganz gut, schreibe mir auf, was ich sagen will, verscheuche mein Herzklopfen mit Selbstermahnungen, und dann geht es schon. Applaus, großes Dankeschön des Bauherrn. Ich trage bei diesen Gelegenheiten einen eleganten Anzug, ein weißes Hemd und eine Krawatte, die Leute wollen, dass es festlich zugeht, und ich will das auch. Diesmal spürte ich eine größere Unruhe als sonst, mein Herz klopfte trotz meiner Ermahnungen, und dann stand ich da, sah die Blicke der Hausbesitzer, ein junges Ehepaar mit drei Kindern, die Blicke der Dachdecker, Zimmerleute, Klempner und Elektriker, alle schauten mich an, erwartungsfroh, gierig, fand ich, gierig nach meinen Worten, meine Stimmbänder wurden steif, meine Kehle wurde enger und enger, bis sie zu eng war, um Worte durchlassen zu können, ich rang um diese Worte, die festsaßen, die ich nicht befreien konnte, während die Dachdecker und Klempner schon verwundert schauten, sich fragten, warum der Typ da oben auf seinem kleinen Podest, das die Zimmerleute eigens gezimmert hatten für diese Rede, nicht loslegte und warum er so eigenartig schaute. Bestimmt sah man schon die Angst, die mich nun ganz besaß, ich konnte das nicht mehr aushalten, musste weg von hier, weg von diesen Blicken, und dann ging ich, rannte nicht, sondern zähmte mit aller Kraft meine Schritte, um mir einen letzten Rest an Würde zu erhalten, ging an dem jungen Ehepaar mit seinen drei Kindern vorbei, ging durch die Reihen der Dachdecker, Klempner, Zimmerleute und Elektriker, die mich nun noch mehr anstarrten, aber niemand sagte etwas, und dann saß ich endlich in meinem Auto und fuhr davon.
Am nächsten Tag wollte ich eine kleine Besprechung mit Handwerkern in meinem Büro machen, aber eine Viertelstunde davor war ich so in Panik, dass ich den Termin absagte und nach Hause fuhr. Erst jetzt erzählte ich Rebecca, was mir widerfahren war, und wir grübelten lange darüber, was der Grund sein könne, kamen aber nur auf Herrn Tiberius. Uns schien naheliegend, dass seine Vorwürfe, so realitätslos sie waren, in mir eine Scham ausgelöst haben und eine Angst, dass die, die mich anschauen, mich als einen Kinderschänder sehen könnten. Rebecca beruhigte mich, sie redete mir gut zu, machte mir Tees, ließ mir Badewannen mit wohlriechenden Ölen einlaufen, war eine wunderbar fürsorgliche Ehefrau, aber es wurde nicht besser. Vor mehr als drei Leuten konnte ich nicht auftreten. Damit war mein Beruf bedroht, glaubte ich damals, ein Architekt muss kein Redner sein, aber er muss hin und wieder eine Rede halten, muss mit Handwerkern verhandeln und streiten können, und ich konnte das nicht mehr. Während ich bis dahin das Wort des Schwächlings eher kokett auf mich angewandt hatte, weil wir Geistesmenschen doch die wahrhaft Starken sind in einer Demokratie, in einem Rechtsstaat, so kam ich mir nun wirklich wie ein Schwächling vor, damit dem Herrn Tiberius vollkommen ausgeliefert. Ich ging zweimal zu einem Therapeuten, der schnell dahinterkam, dass mein Vater eine interessante Geschichte ist, und mit mir ständig über meinen Vater reden wollte, weil «wir an die tieferen Ursachen ranmüssen», wie er sagte, aber ich hatte nicht den Eindruck, dass mir das
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