Angst (German Edition)
bestand darauf, dass Rebecca blieb, und bald war auch den Kindern wieder klar, dass wir eine Familie zu viert sind.
Das alles zeigt, dass wir in diesen Tiberius-Monaten auch ein normales Leben hatten, dass wir unseren Alltag lebten, als sei nichts geschehen, als wohne nicht unter uns ein Mann, der unser Glück vernichten will, wie wir das damals sahen. Paul hörte nach zwei Wochen mit dem Rüsseln auf, und wir blieben dabei, mit den Kindern nicht über Herrn Tiberius zu reden, sodass für sie alles normal wirkte, glaube ich. Von meinen nächtlichen Patrouillengängen um das Haus bekamen sie nichts mit, und natürlich sagte ich nie zu jemandem, nicht einmal zu meiner Frau, welche Gedanken mich dabei umtrieben, Mordgedanken. Würde Herr Tiberius sich zeigen, würde ich ihn erschlagen, dachte ich, und die Tat als Notwehr beschreiben. Aber er zeigte sich nie, und in Wahrheit war ich froh darüber, nicht jedoch, weil ich ihn sonst erschlagen hätte, sondern weil ich ihn wahrscheinlich nicht erschlagen hätte, was meine Wehrlosigkeit offenkundig gemacht hätte.
So ganz normal war unser Leben mit den Kindern allerdings doch nicht. Ich habe erst gar nicht gemerkt, dass ich begonnen hatte, meine Kinder nicht mehr mit größter Selbstverständlichkeit meiner Nacktheit auszusetzen. Ich zog mich im Bad aus, und ich zog mich im Bad an. Beim Kuscheln achtete ich darauf, dass ich meine Kinder nicht dort berührte, wo ich sie ohnehin niemals berührte, außer beim Waschen, aber auch das machte ich nicht mehr. Es ist furchtbar, aber ich kann es nicht anders sagen: Beim Waschen meiner Kinder stand in gewisser Weise Herr Tiberius an meiner Seite und sah mir auf die Finger.
An einem dieser Tage schickte er meiner Frau ein Gedicht. Es war primitiv gereimt, aber nicht dümmlich, es hatte sogar ein wenig Poesie. Es ging im Wesentlichen um die Schreie meiner Frau, wobei nicht klar war, ob er Wutschreie oder Lustschreie meinte. Rebecca ist eher still im Bett, aber vielleicht wünschte er sich Lustschreie von ihr. Das zu lesen war schon grauenhaft, aber dann endete das Gedicht auch noch damit, dass er sich nichts mehr wünsche, als dabei zu sein, wenn meine Frau ihren letzten Schrei ausstoße, um dann «röchelnd zu vergehen» und für immer still zu sein, wobei er «vergehen» mit «verwehen» reimte. Eine Morddrohung, sagte ich mit brechender Stimme zu Rebecca. Sie las den Brief, dann saß sie still an unserem Küchentisch. Ich fühle mich so schmutzig, sagte sie, so unendlich schmutzig, in seinen Gedanken macht er das alles mit mir, und er ist, wenn er das denkt, dicht bei mir, fast in meiner eigenen Wohnung, wie ein Untermieter. Er ist auch der Untermieter meiner Gedanken, meiner Gefühle, meines Körpers, sagte sie. Aber jetzt haben wir ihn, sagte ich, bei einer Morddrohung muss die Polizei eingreifen.
Ich brachte den Brief zu Frau Kröger vom LKA 41, sie las lange, schüttelte dann den Kopf. Kein Staatsanwalt wird darin eine Morddrohung erkennen, sagte sie, Ihr Nachbar stellt sich etwas vor, und das ist nicht verboten. Aber es geht um einen letzten Schrei, rief ich, um röchelndes Vergehen, um Verwehen, da geht es doch um Tod. Könnte auch Sex sein, sagte sie. Sie sind komplett herzlos, sagte ich. Entschuldigung? Ich sagte, Sie sind komplett herzlos. Sie sehen hier einen Mann vor sich, der Angst hat um seine Frau, der Angst hat um seine Kinder, und Sie sagen nur, es könnte auch Sex sein. Ich sage Ihnen, was in den Gesetzen steht, sagte sie. Ich brach in Tränen aus, das gebe ich zu, ein paar Tränen liefen meine Wangen hinunter, ich schüttelte den Kopf, stand auf und ging, ohne ein Wort. Hoffnungslos schaute ich bei unserer Anwältin vorbei, und wie erwartet sah auch sie uns nicht in einer besseren Lage, nachdem sie den Brief gelesen hatte. Ich fragte sie, was mit der Verleumdungsklage sei, sie sagte, dass ich Geduld haben müsse. Da entzog ich ihr das Mandat. Sie nahm das gleichgültig auf.
Ich rief meinen Bruder an, und am nächsten Tag war er bei uns. Ich wollte meine Familie in dieser Lage keine Minute lang alleine in der Wohnung lassen. Zwar hatte ich mein Büro fast komplett nach Hause verlegt, aber manchmal musste ich zu den Baustellen fahren, und ich wollte nichts riskieren. Als mein kleiner Bruder angekommen war, saßen wir abends lange am Küchentisch, er, Rebecca und ich, tranken Rotwein und redeten nicht über Herrn Tiberius. Gegen Mitternacht ging Bruno raus und kam kurz darauf mit einem Kuhfuß wieder. Was soll
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