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Angst (German Edition)

Angst (German Edition)

Titel: Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Kurbjuweit
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das, fragte ich. Bringen wir es hinter uns, sagte er, deshalb bin ich doch hier. Nein, du bist nicht hier, weil ich will, dass Herr Tiberius mit diesem Ding erschlagen wird, entgegnete ich, du bist hier, um auf meine Familie aufzupassen. Er sagte, dass er den Kuhfuß nur brauche, um die Tür «von dem Schwein» zu öffnen, den Rest könnten wir mit den Fäusten machen. Ich erklärte ihm, dass wir im Recht seien und diese Position nicht aufgeben würden. Was hilft dir ein Recht, das dich im Stich lässt, fragte mein Bruder.
    Heute denke ich, dass Herr Tiberius noch leben könnte, wenn ich damals meinem kleinen Bruder gefolgt wäre, vielleicht hätten ihn die Schläge eingeschüchtert, und er wäre ausgezogen. Aber ich weiß es nicht, kann es nicht wissen. Es ist einer dieser irrealen Gedanken, die mich manchmal martern. Was wäre aus mir geworden, hätte ich in dieser oder jener Situation eine andere Abzweigung genommen? Wir leben immer mindestens zwei Leben, gerade nach großen Entscheidungen: das Leben, für das wir uns entschieden haben, und das Leben, für das wir uns nicht entschieden haben. In Gedanken spielen wir es durch, vergleichen es mit unserer realen Existenz. Bei mir ist es ein Leben, in dem es gelungen ist, Herrn Tiberius auf sanfte Weise aus dem Haus zu befördern. Er lebt in einer geschlossenen Anstalt und kann uns nichts tun. Mit meinem Vater gehe ich hin und wieder einen Kaffee trinken, weil wir uns auch ohne Mord miteinander versöhnt haben. Es geht uns allen gut.
    Mein kleiner Bruder legte den Kuhfuß auf den Tisch und setzte sich. Wir stürmten an diesem Abend nicht hinunter, sondern diskutierten lange. Ich war bald verärgert, weil mich Bruno in die Ecke des Schwächlings rückte, eines Mannes, der sich nicht wehrt, sondern nur zuschaut, wie seine Familie fertiggemacht wird. Ich sagte, dass wir die Zivilisation gleich abschaffen könnten, wenn selbst Leute wie ich Zuflucht zur Barbarei nehmen würden. Mach es doch nicht immer so groß, sagte mein kleiner Bruder, polier dem Kerl einfach die Fresse, die Zivilisation wird das schon überleben. Es wurde ein heftiger Streit, alte Familiengeschichten kamen auf den Tisch, aber was mich am meisten ärgerte, war, dass meine Frau zu alldem nichts sagte, dass sie nicht an meiner Seite stand in dieser Diskussion. Am Ende nahm ich meinem Bruder das Versprechen ab, dass er nichts ohne mich tun werde, dass er Herrn Tiberius in Ruhe lasse. Unwillig stimmte er zu.
    Ich konnte lange nicht einschlafen, wie so oft in jener Zeit, und in Wachträumen sah ich mich als Teil eines großen Kampfes, als Teil einer Zivilisation, die sich der Barbarei zu erwehren hat, aber mit ihren eigenen Mitteln, und es war deshalb meine Aufgabe, die Barbarei zu überwinden, ohne selbst zum Barbaren zu werden.
    Am nächsten Tag war die Polizei wieder bei uns, weil Herr Tiberius meinen Bruder angezeigt hatte. Er habe zusammen mit meiner Frau unsere Kinder missbraucht. Polizeiobermeister Leidinger und sein Kollege Rippschaft kamen, wir wurden kurz befragt, dann zogen die beiden wieder ab. Ich sagte meinem Bruder, dass er seinen Kuhfuß vergessen könne, er habe mir ein Versprechen gegeben. Bruno schaute mich verächtlich an und verschwand wieder in Pauls Zimmer. Vielleicht kann sich nicht jeder vorstellen, was ein solcher Besuch durch die Polizei heißt, vielleicht wirkt das Ganze durch die Wiederholung wie eine Komödie, aber so konnten wir es nicht empfinden. Es war jedes Mal eine Demütigung, eine Beschmutzung, eine Berührung mit dem Bösen. Wir blieben erschüttert, blieben zurück wie Nichtüberführte, nicht wie Unschuldige, weil uns niemand gesagt hatte, dass wir unschuldig sind. Wir mussten es uns selbst sagen, aber das reichte nicht, um uns dort einzureihen, wo wir hinwollten: in den Kreis der Menschen, deren Leben unberührt ist vom Verdacht des Kindesmissbrauchs.
    Die Tage waren nun sehr warm, dreißig Grad, ein blauer Himmel prangte über unseren düsteren Gedanken. Eines Tages saß ich im Garten und bastelte an einem Modell für ein Einfamilienhaus, während die Kinder auf dem Trampolin tobten, alles schien gut, aber ich hockte da wie ein Wachmann auf seinem Posten. Das Trampolin stand hinter einer Hecke, und ich sah nur die Köpfe der Kinder, wie sie hervorpoppten mit lachenden Gesichtern und wieder verschwanden. Ich stellte mir eine Welt ohne sie vor, nachdem Herr Tiberius sie erwischt hatte, und fragte mich, wie ich in dieser Welt leben würde. Dabei suchte ich nicht den

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