Angst (German Edition)
etwas bringen könnte, auch nicht die Bemerkung, ich solle aufhören, meine Kindheit so «beflissen» für normal zu halten. Ich ließ mir Beruhigungstabletten verschreiben und ging nicht mehr hin. Die Tabletten halfen, machten aber schnell süchtig, sodass ich sie nur sparsam schluckte, bis ich nach wenigen Wochen merkte, dass ich sie nicht mehr brauchte. Ich war ein wenig verunsichert vor Gesprächen, konnte sie aber so absolvieren, dass niemand etwas merkte.
Damals habe ich zum ersten Mal die Ängste meines Vaters verstanden. Ich wusste immer noch nicht, wo sie herkamen, aber ich wusste, wie sie wirken. Sie tauchen einfach auf, scheinbar ohne Grund, und sofort stülpen sie sich als schwarze Kapuze über das Gemüt. Sie herrschen total und schreien: Flieh! Man wird innerlich zu einem zittrigen Wesen, wird Reh und wittert die Wölfe, ohne sie zu sehen. Man teilt sich. Man sitzt oder steht an einem Ort, ist aber auch schon weg, rennt, rast, rennt aus dem eigenen Körper heraus. Unerträgliche Spannung, es zerreißt einen. Und Scham, große Scham, dass man so ein beschissenes Reh ist. Ich verstand, dass mein Vater das nicht aushalten konnte, dass er einen Schutz brauchte. Die Pistolen waren sein Schutz. Er musste nicht von außen bedroht sein, es musste keine Finstermänner geben, die ihm an den Kragen wollten. Er war von innen bedroht, übertrug das nach außen, verwandelte seinen Dämon in die Verbrecher aus den Zeitungen und Fernsehnachrichten, und so konnten ihm die Waffen Sicherheit geben. Nach dem Dämon muss ich ihn fragen, wenn er das Gefängnis verlassen hat, also hoffentlich bald. Vielleicht war es doch ein Kriegserlebnis, obwohl er nicht so schreckliche Dinge erzählt hat wie meine Mutter. Vielleicht war es sein Vater. Ein Vater ist immer eine gute Adresse für einen Dämon.
In jener Zeit fing ich an, meiner Mutter am Telefon von unserem Unglück zu erzählen. Bislang hatte ich sie geschont, aus Herrn Tiberius eher einen fiesen Clown gemacht als eine Bedrohung. Nun wurde ich deutlicher, erzählte von den Briefen, die wir auf dem Sims fanden. Er hatte inzwischen drei Gedichte über meine Frau geschrieben, alle kreisten um Sex und Tod.
Daneben gab es unsere bestürzende Familiennormalität. Wir machten Ausflüge in den Spreewald, der mir so lieb ist wie keine andere Landschaft der Welt, schmale Fließe zwischen hohen Pappeln, die ihre Wipfel einander zuneigen, sodass eine gewaltige Naturkathedrale entsteht. Wir mieteten zwei Kanus und tourten durch das Labyrinth der Wasserwege zwischen grünen Weiden, Fee bei mir im Boot, Paul bei Rebecca. Das Plätschern der Paddel im Wasser, und ich erzählte Geschichten von Lieutenant Schiwkow, einem russischstämmigen Polizisten in Los Angeles, den ich für meine Kinder erfunden hatte, oder wir hielten mit listigem Schweigen Ausschau nach Bibern, und manchmal sahen wir einen, und wie freuten sich dann die Kinder. Wir ließen sie auf einem Wasserspielplatz spielen, während wir im Gras lagen, eng umschlungen, beinah Sex miteinander hatten, nicht wirklich, dazu waren wir zu g’schamig, wie ein bayerischer Freund von mir sagen würde. Rebecca erzählte mir, was sie am liebsten mit mir machen würde, und ich erzählte ihr, was ich am liebsten mit ihr machen würde. Manchmal kamen die Kinder vorbei und kippten uns kaltes Wasser in den Nacken. Auf der Rückfahrt, als Paul und Fee hinten im Auto schliefen, sagte Rebecca, dass sie sich nichts mehr wünsche, als dass Tiberius verschwinde, aber manchmal habe sie Angst davor, dass er verschwinde. Weil ich dann wieder in mir verschwinde, fragte ich. Ja, sagte sie, vielleicht verschwindest du wieder, wenn die Gefahr vorbei ist. Ich versicherte ihr, dass dies nicht so sein würde, wusste aber selbst, wie haltlos Sätze über die Zukunft sind. Mir war ebenfalls klar, dass unser Glück miteinander ein Glück war, das uns Herr Tiberius beschert hatte. War es damit an ihn gekoppelt? Ich dachte, dass es schlimm ist, dass Herr Tiberius uns Unglück eingebrockt hat, aber dass es in gewisser Weise noch schlimmer ist, dass er uns Glück gebracht hat, nämlich die Wiederauferstehung einer Ehe und eines guten Familienlebens. Kann das Böse das Gute gebären? Und was ist das Gute wert, das etwas Böses gebraucht hat, um entstehen zu können? Verschwindet dieses Gute, wenn das Böse verschwindet? Ich unterließ es, ernsthaft nach Antworten auf diese Fragen zu suchen.
An einem Abend, als mein kleiner Bruder ausgegangen war, saßen Rebecca und
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