Angst (German Edition)
harten Griff eines Rockers wiederfand, Bruno erging es ebenso. Mickel verabreichte uns jeweils eine mittelschwere Ohrfeige, eher fürsorglich als zornig ausgeführt, und sagte, wir sollten abhauen, mit Leuten wie uns könne man ein solches Geschäft nicht machen. Wir trollten uns, draußen trat mein kleiner Bruder gegen eines der Motorräder, das er bemalt hatte. Es fiel scheppernd um, und wir rannten lachend davon, sprangen in mein Auto und fuhren mit quietschenden Reifen weg.
Am Tag darauf wurde meinem kleinen Bruder zugetragen, dass Mickels Leute ihn suchten, weil das Motorrad erheblich beschädigt war. Er ging für eine Weile nach Qingdao, um für einen reichen Chinesen einen Bentley zu bemalen.
Als ich nach dem Studium nach Berlin zurückkehrte, arbeitete ich erst im Büro eines etablierten Architekten und machte mich dann nach drei Jahren selbständig, mietete ein paar Räume in der Wielandstraße, investierte und hatte plötzlich eine Menge Schulden. Ich spezialisierte mich auf Einfamilienhäuser, erst größere Renovierungen und Umbauten, dann mehr und mehr neue Häuser nach eigenen Entwürfen. Es war nichts mehr übrig von meinen Phantasien einer neu gebauten Welt, aber wir werden alle älter, und es machte mir Freude, andere Menschen mit Heimat zu versorgen. In keinem anderen Bereich der Architektur ist das Glück der Besitzer so spürbar wie in meinem. Wie sie sich freuen, dass sie sich ein Zuhause fürs Leben geschaffen haben, was natürlich oft genug ein Trugschluss ist. Hin und wieder habe ich Häuser, die ich selbst entworfen hatte, für eine neue Besitzerfamilie umgebaut, weil die erste zerbrochen war. Ich machte meine Sache gut und bekam ein paar Preise. Meine liebste Arbeit? Ein Haus ganz aus Glas in Dahlem, ein Rechteck, zwei Etagen, oben läuft eine Leiste aus querstehenden Lamellen um, drei Zentimeter Abstand, die Innenflächen der Lamellen sind in verschiedenen Farben lackiert, sodass das Haus nicht bunt wirkt, aber farbig und lebendig, und je nach Blickwinkel und Sonnenstand sieht es anders aus. Dies ist das Haus, das in der «Architectural Digest» gelobt wurde.
Rebecca studierte in Berlin zu Ende, dann wurde sie Assistentin eines Professors, der am Humangenomprojekt mitarbeitete. Es ging darum, den Bauplan des Menschen zu entschlüsseln, es ging auch um Ruhm und Geld, weil man sich von der Genforschung Erkenntnisse für neue Medikamente versprach. Rebeccas Professor sequenzierte das Chromosom 21, das besonders lukrativ schien. Sie war gut, arbeitete viel, aber das tat ich auch, und wir waren uns wichtig genug, um einander nicht aus den Augen zu verlieren. Schwierig wurde es erst von 1998 an, als Craig Venter Furore machte. Kann sich noch einer an Craig Venter erinnern? Er ist der Amerikaner, der das Unternehmen Celera gegründet hatte und mit einem speziellen Verfahren die menschliche DNA schnell entschlüsseln konnte, wobei er sich auf die Abschnitte konzentrierte, die viel Geld versprachen, also auch auf das Chromosom 21. Ein Wettlauf begann, ein Wettlauf um Ruhm und Patente. Rebecca musste auch an den Wochenenden arbeiten, und wenn sie freihatte, war sie ausgelaugt und nicht besonders zugänglich. Wir rutschten in eine erste Krise. Wir hatten zudem manchmal Streit, weil ich nicht akzeptieren wollte, dass der Mensch durch seine Gene bestimmt ist. Ich glaube an den Menschen als autonomes Wesen, als Herr über seine Entscheidungen. Das klingt vielleicht naiv, ich weiß schon, dass manche nicht so können, wie sie wollen, doch im Prinzip gilt für mich folgender Satz: Wir haben die Wahl. Rebecca sieht das naturgemäß anders. Für sie sind die Gene eine große Macht, die viel Einfluss auf unsere Leben haben. Aber nimm doch meinen Bruder, meine Schwester und mich, sagte ich einmal, wir sind aus den gleichen Genen zusammengesetzt und doch völlig verschiedene Menschen. Ist dir eigentlich aufgefallen, fragte sie, dass du Architekt bist, dein Bruder Motorräder bemalt und deine Schwester Modedesign studiert hat, dass ihr drei zeichnet und malt, obwohl ihr angeblich so verschieden seid? Aber unsere Eltern zeichnen und malen nicht, sagte ich bockig. Du bist blind, sagte sie, gibt es jemanden, der seinen Kindern schönere Pullover gestrickt hat als deine Mutter? Ich habe die Bilder alle gesehen in den Familienalben, da zeigt sich ein Talent, fuhr Rebecca fort, ein Drang, sich in Mustern und Formen auszudrücken, Liebe durch Gestaltung. Aber von meinem Vater habe ich nichts, sagte ich, um mir
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