Angst in deinen Augen
identifiziert.“
„Und?“
„Er stammt von Victor Spectre.“
9. KAPITEL
N ina kletterte aus dem Kahn, mit dem sie am Spätnachmittag auf den See hinausgerudert war, um sich die Zeit zu vertreiben. Als sie wenig später Sam reglos am Ufer hatte stehen sah, hatte ihr Herz sofort angefangen, wie verrückt zu hämmern. Sie hatte den ganzen Tag an kaum etwas anderes denken können, und selbst die Gefahr, in der sie schwebte, verblasste angesichts der Geschehnisse von letzter Nacht.
Sie warf Sam das Seil zu. Er zog den Kahn ans Ufer und half ihr beim Aussteigen. Allein der Druck seiner Hand auf ihrem Arm jagte ihr einen köstlichen Schauer über den Rücken. Aber ein Blick in sein Gesicht versetzte ihrer Hoffnung, dass er als ihr Liebhaber hier war, einen gehörigen Dämpfer. Das war der Cop, unpersönlich, routiniert, sachlich. Hunderte von Meilen entfernt von dem Mann, der sie letzte Nacht im Arm gehalten hatte.
„Es gibt eine neue Entwicklung“, sagte er, nachdem sie im Haus waren.
„Was denn für eine?“, fragte sie, immer noch darum bemüht, sich ihre Enttäuschung auf keinen Fall anmerken zu lassen.
„Wir glauben zu wissen, wer der Bombenleger ist. Ich möchte, dass du dir diese Fotos ansiehst.“
Nina saß auf der Couch vor dem Kamin – demselben Kamin, vor dem sie sich in der vergangenen Nacht geliebt hatten – und blätterte durch ein Verbrecheralbum. Der Kamin war ebenso erkaltet wie ihr Körper und ihr Herz. Sam saß gut einen Meter entfernt von ihr, schweigend und ohne sie zu berühren. Aber er schaute sie gespannt an und wartete auf ein Zeichen, dass sie ein Gesicht in diesem Album erkannte.
Sie zwang sich, sich auf die Fotos zu konzentrieren. Sie betrachtete die Gesichter eins nach dem anderen eingehend. Nachdem sie auf der letzten Seite angelangt war, klappte sie, den Kopf schüttelnd, den Deckel zu.
„Ich erkenne niemanden“, erklärte sie.
„Bist du sicher?“
„Ganz sicher. Warum? Wen hätte ich denn erkennen sollen?“
Seine Enttäuschung war offensichtlich. Er schlug das Album auf der vierten Seite auf und reichte es ihr. „Schau dir dieses Gesicht an. Das dritte von oben. Hast du diesen Mann je gesehen?“
Sie studierte das Foto lange, dann sagte sie: „Nein. Ich kenne ihn nicht.“
Sam ließ sich mit einem frustrierten Aufstöhnen zurücksinken. „Das macht einfach keinen Sinn.“
Nina schaute immer noch auf das Foto. Der Mann war in den Vierzigern, mit rötlich blondem Haar, blauen Augen und eingefallenen, fast ausgemergelten Wangen. Es waren jedoch die Augen, die ihre Aufmerksamkeit fesselten. Sie starrten sie so direkt und einschüchternd an, dass ihr unwillkürlich ein Schauer über den Rücken lief.
„Wer ist er?“, fragte sie.
„Sein Name ist – oder war – Victor Spectre. Er ist eins achtzig groß, 180 Pfund schwer und sechsundvierzig Jahre alt. Zumindest bald. Falls er noch lebt.“
„Du meinst, du weißt es nicht genau?“
„Wir sind bisher davon ausgegangen, dass er tot ist.“
„Ihr seid euch nicht sicher?“
„Jetzt leider nicht mehr.“ Sam stand auf. Es wurde kühl in der Hütte; er kniete sich vor den Kamin und begann Brennholz aufzuschichten.
„Spectre hat als Sprengstoffexperte bei der Armee gearbeitet. Irgendwann wurde er wegen Diebstahls unehrenhaft entlassen, doch er brauchte nicht lange, um sich eine zweite Karriere aufzubauen. Er wurde das, was wir einen Spezialisten nennen. Große Aufträge, eine Menge Kohle. Er verkaufte sich an jeden, der für seine Kenntnisse bezahlte. Er arbeitete für terroristische Regimes. Für Bandenchefs im ganzen Land.“
Sam riss ein Streichholz an und hielt es an den Anzünder, den er brennend auf die Holzscheite warf.
„Vor sechs Monaten explodierte eine Bombe in einem Kaufhaus. Aus den Trümmern wurde eine Leiche geborgen, von der man annahm, dass es sich um Spectre handelte. Jetzt scheint ziemlich sicher, dass es jemand anders war. Und dass Spectre immer noch am Leben ist.“
„Woher weißt du das?“
„Weil wir jetzt seinen Fingerabdruck gefunden haben.“
Sie starrte ihn an. „Ihr denkt, dass er auch den Sprengsatz in der Kirche gezündet hat?“
„Fast sicher. Victor Spectre versucht, dich zu töten.“
„Aber ich kenne ihn doch gar nicht! Ich habe seinen Namen vorher noch nie gehört.“
„Und du hast ihn auf dem Foto nicht erkannt.“
„Nein. Ich habe ihn noch nie gesehen.“
Sam stand auf. Hinter ihm knackten und loderten die Flammen. „Deiner Familie haben wir Spectres
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