Angst in der 9a
dann gern; aber es hätte nur den Schaden. Wie man’s auch dreht: Dass sich die Eltern scheiden lassen, ist für Kinder nur selten ein Glücksfall.«
»Und für Marco?«
»Nach allem, was ich über Borello weiß, möchte ich den als Vater nicht haben.«
»Ich auch nicht«, meinte Klößchen. »Meinen Herrn Vater, den Schokoladenfabrikanten, würde ich ohnehin gegen keinen anderen eintauschen. Nicht wegen der Schokolade, sondern weil ich mich so gut mit ihm verstehe. Mann o Mann! Wenn Borrello mein Vater wäre, hätte ich womöglich seinen Charakter geerbt. Hoffentlich trifft das für Marco nicht zu.«
»Der wird wie die Mutter.«
Im ADLERNEST betrachtete Tarzan seine Hand, mit der er Bettger geohrfeigt hatte. Sie war tatsächlich etwas geschwollen.
Es wurde Zeit zum Schlafengehen.
Vorher duschten sie. Beim Zähneputzen fand Klößchen allerlei Nussstückchen zwischen den Zähnen. Sie stammten aus der Schokolade, von der er heute noch mehr gefuttert hatte als an anderen Tagen.
Als sie im Bett lagen, meinte er: »Wie Kuhdreck aufs Dach kommt, weiß man ja inzwischen. Aber wie kommt eine giftige Flüssigkeit in die Schnapsflasche?«
»Darüber denke ich dauernd nach.«
»Sonst hast du doch, wenn du lange genug denkst, meistens die richtigen Ideen.«
»Ich weiß nicht recht«, sagte Tarzan. »Ich bin irgendwie unruhig. Ist so ein unbehagliches Gefühl, als hätte ich vergessen, mein Rad mit dem Kabelschloss zu sichern. Verstehst du?«
»Nein.«
»Ich will damit sagen: Irgendwas in meinem Hinterhauptklickert mir, ich müsste eigentlich wissen, was die Sache zu bedeuten hat. Aber es fällt mir nicht ein. Komisch, was?«
»Ob Borrello den Schnaps vergiftet hat, um seine Komplizen umzubringen?«
»Na, nun aber! Zum Mörder wollen wir ihn doch nicht machen. Außerdem ist so eine Sache wirklich kein Motiv. Und die Methode wäre blöd.«
Klößchen gähnte. »Mir tut der Hals weh! Dieser Bernd hat mich gequetscht, geschüttelt und gebeutelt, dass ich dachte, mit mir ist es aus. Immerhin – eins auf die Nase konnte ich ihm geben. Hat ganz nett geblutet, wie? Habe ich mich schon bedankt für deine Hilfe?«
»Was soll das! Ist doch selbstverständlich.«
Sie löschten das Licht.
Wenig später kam der EvD, der Erzieher vom Dienst, herein, fragte, ob alles gesund sei, und wünschte Gute Nacht. Tarzan hatte sich zum Fenster gedreht.
Eine mondlose Nacht senkte sich auf Stadt und Land. Warmer Wind wehte durch das spaltweit geöffnete Fenster herein – wie der Vorbote eines Gewitters. In der Ferne flammte Wetterleuchten über den Horizont.
Trotz der Ereignisse fühlte sich Tarzan kein bisschen müde. In so einer Nacht wäre er gern draußen gewesen. Aber ihm fiel kein vernünftiger Grund ein, um aus dem Internat zu türmen. Gewiss – trotz verriegelter Türen konnten er und Klößchen auch nachts jederzeit aus der Schule entwischen. Sie hatten dafür ihre besondere Methode. Aber die wurde nur angewendet, wenn ein triftiger Grund das gebot. Nur so zum Spaß verstießen sie nicht gegen die Heimordnung. Das Risiko, von der Schule zu fliegen, war zu groß.
Warum war das giftige Zeug in der Flasche?, überlegte Tarzan.
In derselben Sekunde wusste er es. Die Erkenntnis durchfuhr ihn wie ein elektrischer Schlag.
Ruckartig setzte er sich im Bett auf.
»He, Willi!«
Aber Klößchen schnarchte bereits.
Tarzan stieg aus dem Bett und rüttelte ihn an der Schulter.
»Was ist?«, murmelte sein Freund schlaftrunken. »Ist es schon Morgen? Dachte, ich wäre eben erst... Wieso ist es noch so dunkel?«
»Nicht so laut«, flüsterte Tarzan aufgeregt. »Willi, Mann! Mir ist die Lösung eingefallen!«
»Mathematik interessiert mich jetzt nicht. Lass mich schlafen. Ich ... «
»Wer redet von Mathe! Ich rede von dem Pflanzenschutzmittel in der Schnapsflasche.«
»Was?« Klößchen hob sein Mondgesicht aus dem zerwühlten Kopfkissen. »Woher weißt du, dass es sich um Pflanzenschutzmittel handelt?«
»Das stand in der Zeitung. Ich habe während der Arbeitsstunde einen Artikel über die Autodiebstähle der letzten Woche gelesen. Da stand nicht nur, welche Wagen entwendet wurden, sondern auch, was sich in den Fahrzeugen befand. Zum Beispiel ein Lottozettel mit fünf Richtigen, die Baupläne eines Architekten und – höre und staune – ein giftiges Pflanzenschutzmittel. Nur ganz beiläufig war das erwähnt. Aber jetzt erinnere dich mal!«
»Woran?«
»Verdammt nochmal! Du hast doch genau wie ich durch den
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