Angst
Gebiet des Galvanismus, hatte mithilfe von Elektroden die Gesichtsmuskeln gereizt, um den gewünschten Ausdruck hervorzurufen.
Hoffmann spürte Leclercs und Gabrielles Zweifel – nein, schlimmer: ihre Bestürzung.
»Entschuldigung«, sagte Leclerc verwirrt. »Sie behaupten also, dass das der Mann ist, der heute Nacht in Ihrem Haus war?«
»O Alex«, sagte Gabrielle.
»Natürlich behaupte ich nicht, dass es dieser Mann war, er ist seit über hundert Jahren tot. Ich will nur sagen, dass er genauso ausgesehen hat.« Beide schauten ihn durchdringend an. Sie glaubten, dass er verrückt geworden war, dachte Hoffmann. Er holte Luft. »Also«, sagte er langsam zu Leclerc. »Dieses Buch wurde mir gestern kommentarlos zugeschickt. Ich hatte es nicht bestellt, okay? Ich habe keine Ahnung, wer es mir geschickt hat. Vielleicht ist das alles ein Zufall. Aber Sie müssen zugeben, wie merkwürdig es ist, dass nur wenige Stunden danach ein Mann, der ge nauso aussieht, als wäre er diesen Seiten entsprungen, hier auftaucht und mich überfällt.« Sie schwiegen. »Wie auch immer«, sagte Hoffmann. »Ich sage nur, wenn Sie ein Phantombild anfertigen lassen wollen, dann ist das hier der Ausgangspunkt.«
»Danke«, sagte Leclerc. »Wir werden das im Auge behalten.«
Eine Pause entstand.
»Also gut«, sagte Gabrielle schließlich fröhlich. »Aber jetzt fahren wir erst mal ins Krankenhaus.«
Leclerc verabschiedete sie an der Haustür.
Der Mond war hinter den Wolken verschwunden. Der Himmel war noch schwarz, obwohl es schon in einer hal ben Stunde dämmern würde. Der Sanitäter öffnete die Hecktüren des Krankenwagens und half dem amerikanischen Physiker mit seinem bandagierten Kopf, dem schwarzen Regenmantel und den dünnen, rosafarbenen Knöcheln, die aus dem teuren Pyjama herauslugten, beim Einsteigen. Seit seinen wirren Bemerkungen über die viktorianische Fotografie hatte er kein Wort mehr gesagt. Auf Leclerc machte er einen beschämten Eindruck. Das Buch hatte er mitgenommen. Hoffmanns Frau, die die Tasche mit seiner Kleidung trug, stieg nach ihm ein. Die Türen wurden zugeschlagen, und dann verließ der Krankenwagen mit einem Streifenwagen im Schlepptau das Grundstück.
Leclerc schaute den beiden Wagen hinterher, bis sie das Ende der geschwungenen Auffahrt erreichten. Die Bremslichter leuchteten kurz auf, dann bogen sie in die Hauptstraße ein und waren verschwunden.
Er ging zurück ins Haus.
»Große Hütte für zwei Leute«, brummte einer der Gendarmen, der gleich hinter der Tür im Flur stand.
Leclerc machte ein grummelndes Geräusch. »Große Hütte für zehn Leute.«
Er begab sich auf einen einsamen Erkundungsrundgang, um ein Gefühl dafür zu bekommen, womit er es hier zu tun hatte. Fünf, sechs – nein, sieben Schlafzimmer im ersten Stock, alle mit eigenem Bad, alle augenscheinlich noch nie benutzt. Das Schlafzimmer des Hausherrn riesig, ein Plasmafernseher im Bad, Waschbecken für sie und ihn, hypermoderne Duschkabinen mit einem Dutzend Wanddüsen. Auf der anderen Seite des Gangs ein Fitnessraum mit Hometrainer, Rudermaschine, Crosstrainer, Gewich ten, noch einem großen Fernseher. Keine Spielsachen. Nir gends Hinweise auf Kinder, auch nicht auf den gerahmten Fotografien, die überall hingen und hauptsächlich die Hoffmanns auf teuren Urlaubsreisen zeigten – beim Skifahren natürlich, bei Segeltörns, Händchen haltend auf irgendeiner Veranda, die auf Pfählen in eine außerirdisch blaue Korallenlagune gebaut war.
Leclerc ging die Treppe hinunter und versuchte, sich in die Gefühlswelt Hoffmanns hineinzuversetzen, als dieser eineinhalb Stunden zuvor hinuntergegangen war – nicht wissend, was ihn erwarten würde. Er machte einen Bogen um die Blutflecke und ging ins Arbeitszimmer. Eine ganze Wand war Büchern vorbehalten. Wahllos griff er eines davon heraus und schaute auf den Rücken: Die Traumdeutung von Sigmund Freud. Er schlug es auf. Veröffentlicht 1900 in Leipzig und Wien. Eine Erstausgabe. Er zog ein anderes heraus. La psychologie des foules von Gustave Le Bon. Paris, 1895. Und noch eines: L’homme machine von Julien Offray de La Mettrie, Leiden, 1747. Ebenfalls eine Erstausgabe … Leclerc wusste nicht viel über seltene Bücher, aber es reichte, um zu erkennen, dass die Sammlung Millionen wert sein musste. Kein Wunder, dass überall im Haus Rauchmelder angebracht waren. Die Themen der Bücher waren hauptsächlich wissenschaftliche: aus der Sozio logie, Psychologie, Biologie, Anthropologie.
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