Angst
Nirgendwo etwas über Geld.
Er ging zum Schreibtisch und setzte sich auf Hoffmanns antiken Kapitänsstuhl. Ab und zu, wenn die schimmernden Zahlenkolonnen sich änderten, lief eine leichte Wellenbewegung über den großen Bildschirm: 1,06, -78, -4,03 %, -$0,95. Die Zahlen waren ihm ein Rätsel, er konnte sie genauso wenig entschlüsseln wie die Inschrift auf dem Stein von Rosette. Wenn er den Schlüssel fände, dachte er, dann könnte er vielleicht genauso reich werden wie dieser Kerl. Die Geldanlagen, die er sich vor ein paar Jahren von einem pickeligen »Finanzberater« für seinen eigenen komfortablen Ruhestand hatte aufschwatzen lassen, waren jetzt nur noch die Hälfte dessen wert, was er dafür bezahlt hatte. So wie die Dinge liefen, würde er nach seiner Pensionierung einen Teilzeitjob annehmen müssen: als Sicherheitschef in einem Kaufhaus vielleicht. Er würde arbeiten, bis er in die Grube fuhr – dazu waren nicht einmal sein Vater und Großvater gezwungen gewesen. Dreißig Jahre bei der Polizei, und er konnte es sich nicht einmal leisten, in der Stadt zu wohnen, in der er geboren war! Und wer kaufte all die teuren Anwesen? Frauen und Töchter von Präsidenten der sogenannten neuen Demokratien, Politiker aus zentralasiatischen Republiken, russische Oligarchen, afghanische Warlords, Waffenhändler – kurz: Geldwäscher, von denen viele die wahren Kriminellen dieser Welt waren. Und er vergeudete seine Zeit damit, in der Bahnhofsgegend halbwüchsigen algerischen Drogenhändlern hinterherzuhecheln. Um auf andere Gedanken zu kommen, zwang er sich, aufzustehen und in ein anderes Zimmer zu gehen.
Er stand in der Küche vor der granitenen Arbeitsinsel und begutachtete die Messer. In der Hoffnung auf Fingerabdrücke hatte er sie in Beweisbeutel packen und diese versiegeln lassen. Das war der Teil von Hoffmanns Geschichte, den er nicht verstand. Hätte der Einbrecher das Paar entführen wollen, so wäre er vorbereitet gewesen und hätte die passenden Waffen mitgebracht. Ein Kidnapper hätte außerdem mindestens einen, wenn nicht mehrere Komplizen gebraucht: Hoffmann war relativ jung und fit – er hätte sich gewehrt. War also Raub das Motiv? Ein simpler Dieb wäre allerdings einfach eingestiegen, hätte sich alles, was er tragen konnte, unter den Nagel gerissen und wäre so schnell wie möglich wieder verschwunden. Tragbare Beute gab es jede Menge. Es schien also alles darauf hinzudeuten, dass der Einbrecher geistesverwirrt war. Aber woher konnte ein gewalttätiger Psychopath die Zugangscodes kennen? Es war ein Rätsel. Gab es vielleicht einen anderen Weg ins Haus, einen, der nicht gesichert war?
Leclerc ging zurück in den Flur und wandte sich nach links. Der hintere Teil des Hauses öffnete sich zu einem viktorianischen Wintergarten, der als Künstleratelier genutzt wurde, obwohl es sich bei dem, was er vorfand, nicht gerade um das handelte, was der Inspektor unter Kunst verstand. Es sah mehr wie ein radiologisches Labor oder eine Glaserwerkstatt aus. An der ursprünglichen Außenwand des Hauses hingen eine riesige Collage aus elektronischen Bildern des menschlichen Körpers – digitale Bilder, Infrarot- und Röntgenbilder – und anatomische Zeichnungen von verschiedenen Organen, Gliedmaßen und Muskeln.
In Holzstellagen lagerten Platten aus entspiegeltem Glas und Plexiglas in unterschiedlichen Größen und Stärken. In einer Stahltruhe steckten Dutzende von dicken, sorgfältig beschrifteten Ordnern mit Computerbildern. » MRT -Aufnahmen Kopf, 1–14, sagittal, axial, koronar.« – »Mann, Schnittbilder, virtuelles Krankenhaus, sagittal & koronar.« Auf einem Labortisch standen zahlreiche Tintenfässchen und ein Leuchtkasten, daneben lagen eine Schraubzwinge und verschiedene Gravierwerkzeuge und Pinsel. In einer schwarzen Halterung aus Gummi steckte eine Handbohrmaschine. Daneben befanden sich eine dunkelblaue Teedose – »Taylor’s of Harrowgate, Earl Grey Tea« – voller Bohrköpfe und ein Stapel Hochglanzbroschüren für eine Ausstellung mit dem Titel »Menschliche Konturen«, die heute in einer Galerie am Plaine de Plainpalais eröffnen sollte. Innen fand Leclerc eine biografische Notiz: »Gabrielle Hoffmann wurde in Yorkshire, England, geboren. Nach einem Doppelabschluss in Kunst und Französisch an der Universität Salford schloss sie das Royal College of Art in London mit dem Grad des Master of Arts ab. Sie arbeitete mehrere Jahre für die Vereinten Nationen in Genf.« Er rollte die Broschüre
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