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Angst

Angst

Titel: Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Nachbarn zu. Es handelte sich um Bill Easterbrook vom amerikanischen Bankenkonglomerat AmCor. »Du hast Bill schon mal getroffen«, hatte Quarry zu Hoffmann gesagt. »Weißt du noch? Der Dinosaurier, der aussieht, als wäre er einem Oliver-Stone-Film entsprungen. Inzwischen arbeitet er in einem ausgegliederten Unternehmen, das AmCor Alternative Investments heißt. Im Grunde nur ein Buchungstrick, um die Regulierungsbehörde zufriedenzustellen.« Quarry hatte selbst zehn Jahre für AmCor in London gearbeitet. Er und Easterbrook kannten sich schon sehr lange. »Sehr, sehr lange«, wie er mit verträumtem Gesichtsausdruck sagte: zu lange, sollte das heißen, um sich noch daran erinnern zu können, was damals im Nebel der glorreichen Koks-und-Callgirl-Zeiten der 1990er so alles passiert war. Als Quarry bei AmCor gekündigt hatte, um sich mit Hoffmann zusammenzutun, hatte ihnen Easterbrook auf Provisionsbasis die ersten Kunden vermittelt. Jetzt war AmCor Alternative mit fast einer Milliarde Dollar an verwaltetem Vermögen Hoffmanns größter Investor. Easterbrook war ebenfalls ein Gast, für den Quarry sich zur persönlichen Begrüßung eigens in die Lobby bemühte.
    Und so trafen nach und nach alle ein: der 27-jährige Amschel Herxheimer aus der Banken- und Handelsdynastie Herxheimer, dessen Schwester mit Quarry in Oxford studiert hatte und der nun auf die Übernahme der zweihundert Jahre alten Privatbank der Familie vorbereitet wurde; der langweilige Iain Mould von einer Bausparkasse in Fife, die einst noch langweiliger war – bis sie Anfang des Jahrhunderts an die Börse ging, binnen drei Jahren Schul den in der Höhe des halben Bruttoinlandsprodukts von Schottland aufhäufte und daraufhin von der britischen Regierung übernommen werden musste; der Milliardär Mieczys ł aw Ł ukas i ´ nski, der früher Mathematikprofessor und Chef der Kommunistischen Jugendunion Polens und nun Besitzer des drittgrößten Versicherungsunternehmens in Osteuropa war; und schließlich zwei chinesische Unternehmer, Liwei Xu und Qi Zhang, die eine Investmentbank aus Schanghai vertraten. Mit den Chinesen zusammen waren nicht weniger als sechs Männer in dunklen Anzügen angereist, von denen die Chinesen behaupteten, sie seien ihre Anwälte. Quarry hingegen hielt sie für Computerexperten, die Hoffmanns Netzsicherheit ausspionieren sollten. Nach einem verbissen-höflichen Wortgefecht zogen sie schließlich widerwillig ab.
    Nicht ein einziger ihrer Investoren hatte Quarrys Einladung abgelehnt. »Die kommen aus zwei Gründen«, hatte er Hoffmann erklärt. »Erstens weil wir drei Jahre lang einen Profit von 83 Prozent für sie gemacht haben, sogar als die Finanzmärkte abgeschmiert sind. Ich wette gegen jeden, der irgendeinen anderen Hedgefonds kennen will, der derart konsequent Alpha produziert hat. Die müssen sich doch fragen: ›Wie, zum Henker, machen die das?‹ Und trotzdem haben wir uns geweigert, auch nur einen einzigen zusätzlichen Cent an Investitionen von ihnen zu nehmen.«
    »Und der zweite Grund?«
    »Jetzt sei mal nicht so bescheiden.«
    »Ich verstehe nicht.«
    »Du natürlich, du blöder Penner. Die wollen dich in natura sehen. Die wollen rauskriegen, woran du arbeitest. Du bist inzwischen eine Legende, die wollen den Saum deiner Robe berühren, nur um zu testen, ob sich dabei ihre Finger in Gold verwandeln.«

    Hoffmann wurde von Marie-Claude geweckt.
    »Doktor Hoffmann?« Sie rüttelte sanft an seiner Schulter. »Doktor Hoffmann? Monsieur Quarry lässt Ihnen ausrichten, dass Sie im Sitzungszimmer erwartet werden.«
    Er hatte lebhaft geträumt, aber als er die Augen öffnete, verschwanden die Bilder wie zerplatzende Seifenblasen. Für einen Augenblick erinnerte ihn Marie-Claudes Gesicht an seine Mutter. Sie hatte die gleichen graugrünen Augen, die gleiche markante Nase, den gleichen besorgten, intelligenten Gesichtsausdruck. »Danke«, sagte er und setzte sich auf. »Sagen Sie ihm, dass ich in einer Minute da bin.« Dann fügte er spontan hinzu: »Tut mir leid wegen Ihres Mannes, ich war etwas …« Er machte eine hilflose Handbewegung. »… zerstreut.«
    »Schon in Ordnung. Danke.«
    Auf der anderen Seite des Gangs, gegenüber von seinem Büro, befand sich ein Waschraum. Er drehte den Kaltwasserhahn auf und hielt die Hände darunter. Mehrmals spritzte er sich das eiskalte Wasser ins Gesicht. Zum Rasieren hatte er keine Zeit mehr. Die normalerweise weiche und glatte Haut an seinem Kinn und um seinen Mund herum fühlte sich

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