Angst
Tonnen wog und Partikelstrahlen so schnell durch die Röhre schießen konnte, dass sie den Tunnel 11 000 Mal pro Sekunde umrundeten. Die Strahlenkollisionen mit einer Energie von sieben Billionen Elektronenvolt je Proton sollten die Ursprünge des Universums enthüllen, Extradimensionen entdecken und das Wesen der dunklen Materie erklären. Von dem, was Leclerc verstand, schien nichts auch nur im Entferntesten irgendetwas mit den Finanzmärkten zu tun zu haben.
Quarrys Gäste begannen kurz nach zehn einzutrudeln. Das erste Paar – ein 56-jähriger Genfer namens Etienne Mussard und seine jüngere Schwester Clarisse – reiste mit dem Bus an. »Die kommen früh«, hatte Quarry Hoffmann vorgewarnt. »Die kommen immer früh, für alles.« Beide waren schäbig gekleidet, unverheiratet und lebten zusammen im Vorort Lancy in einer kleinen Vierzimmerwohnung, die sie von ihren Eltern geerbt hatten. Sie hatten kein Auto. Sie machten nie Urlaub. Sie gingen fast nie auswärts essen. Quarry schätzte Monsieur Mussards Privatvermögen auf etwa 700 Millionen Euro, das von Madame Mussard auf 550 Millionen. Ihr Urgroßvater mütterlicherseits, Robert Fazy, hatte eine Privatbank besessen, die in den 1980ern verkauft worden war – nach einem Skandal im Zusammenhang mit jüdischen Vermögen, die die Nazis beschlagnahmt und während des Zweiten Weltkriegs bei Fazy et Cie deponiert hatten. Sie kamen in Begleitung des Anwalts der Familie, Dr. Max-Albert Gallant, dessen Kanzlei passenderweise auch Hoffmann Investment Technologies in rechtlichen Angelegenheiten vertrat. Gallant hatte für Quarry den Kontakt zu den Mussards hergestellt. »Sie behandeln mich wie einen Sohn«, sagte Quarry. »Sie sind unglaublich rüde und jammern in einer Tour.«
Kurz nach diesem grauen Pärchen traf die vielleicht schillerndste Figur unter Hoffmanns Kunden ein: Elmira Gulzhan, die 38-jährige Tochter des Präsidenten von Asachstan. Sie wohnte in Paris, hatte das INSEAD in Fon tainebleau absolviert und war für die Verwaltung des Fami lienbesitzes im Ausland verantwortlich, dessen Wert 2009 von der CIA auf etwa 19 Milliarden US -Dollar taxiert worden war. Quarry hatte es einfädeln können, ihr wie zufällig bei einer Skiparty in Val d’Isère über den Weg zu laufen. Aktuell hatten die Gulzhans 120 Millionen Dollar in den Hedgefonds investiert. Quarry hoffte, sie davon überzeugen zu können, die Summe mindestens zu verdoppeln. Beim Skifahren hatte er sich auch mit ihrem langjährigen Liebhaber François de Gombart-Tonnelle angefreundet, einem Pariser Anwalt, der sie heute begleitete. Als sie ihrem kugelsicheren Mercedes entstieg, trug sie eine lange Jacke aus smaragdgrüner Seide mit farblich passendem Kopftuch, das locker ihr glattes, glänzend schwarzes Haar bedeckte. Quarry empfing sie in der Lobby. »Lass dich nicht täuschen«, hatte er Hoffmann gewarnt. »Sie sieht vielleicht aus, als wäre sie gerade zur Rennbahn unterwegs, aber sie ist jederzeit gut genug für einen Job bei Goldman. Und sie kann dafür sorgen, dass ihr Daddy dir die Fingernägel rausreißen lässt.«
Als Nächstes fuhr eine Limousine des Hotels Président Wilson vom anderen Seeufer vor, in der zwei Amerikaner saßen, die eigens für die Präsentation aus New York angereist waren. Ezra Klein war der Chefanalyst des Winter Bay Trust, einem 14-Milliarden-Dollar-Dachfonds, der, in den Worten seines Wertpapierprospekts, »danach strebt, durch eine breite Palette aktiv verwalteter Portfolios anstelle von einzelnen Bonds oder Aktien Ihr Risiko zu minimieren und gleichzeitig hohe Renditen zu erzielen«. Klein eilte der Ruf außerordentlicher Intelligenz voraus, der durch zwei Eigenheiten noch verstärkt wurde. Erstens sprach er mit einer Geschwindigkeit von sechs Wörtern pro Sekunde und damit etwa doppelt so schnell wie ein normales menschliches Wesen (seine perplexen Untergebenen hatten diesen Wert heimlich gestoppt). Zweitens bediente er sich, während er redete, bei jedem dritten Wort eines Akronyms oder eines Ausdrucks aus dem Finanzjargon. »Ezra ist Autist«, sagte Quarry. »Keine Frau, keine Kinder, keine Sexualorgane jedweder Art, soweit ich das beurteilen kann. Winter Bay könnte für noch mal hundert Millionen gut sein. Mal sehen.«
Neben Klein saß eine massige Gestalt – jenseits der fünfzig und in voller Wall-Street-Uniform aus schwarzem Dreiteiler und rot-weiß gestreifter Krawatte –, die nicht einmal so tat, als hörte sie dem unverständlichen Gequassel ihres
Weitere Kostenlose Bücher