Angst
ausnahmslos exakt um neun Uhr im Präsidium am Boulevard Carl-Vogt eintraf und als erste Handlung des Tages immer die Zusammenfassung dessen las, was über Nacht im Kanton vorgefallen war. Als deshalb um 9:08 Uhr sein Telefon klingelte, wusste Leclerc ziemlich genau, wen er am anderen Ende der Leitung zu erwarten hatte.
»Jean-Philippe?«, sagte eine forsche Stimme.
»Morgen, Chef.«
»Der Anschlag auf den amerikanischen Banker, Hoffmann.«
»Ja, Chef?«
»Wie weit sind wir da?«
»Er hat sich gerade selbst auf eigene Verantwortung aus dem Universitätsspital entlassen. Im Augenblick schauen sich unsere Kriminaltechniker das Haus an. Einer unserer Leute behält das Anwesen im Auge. Das ist alles.«
»Dann ist er also nicht ernstlich verletzt?«
»Anscheinend nicht.«
»Seltsame Geschichte. Was halten Sie davon?«
»Ziemlich abenteuerlich das Ganze. Das Haus gleicht einer Festung, aber irgendwie ist der Einbrecher einfach so reinmarschiert. Er war darauf vorbereitet, das oder die Opfer zu fesseln, und es sieht ganz so aus, als hätte er in der Küche mit Messern rumgespielt. Aber dann hat er Hoffmann nur eins übergebraten und ist abgehauen. Gestohlen wurde nichts. Ehrlich gesagt habe ich das Gefühl, dass Hoffmann uns nicht die ganze Geschichte erzählt hat. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das, wenn es stimmt, Absicht war oder ob er einfach ein bisschen durcheinander ist.«
Am anderen Ende herrschte kurz Stille. Leclerc konnte hören, wie im Hintergrund jemand hin und her ging.
»Machen Sie gerade Feierabend?«
»Bin auf dem Sprung, Chef.«
»Tun Sie mir einen Gefallen, hängen Sie noch eine Schicht dran, okay? Ich hatte eben das Büro vom Finanzminister am Telefon. Die wollten wissen, was da passiert ist. Wäre gut, wenn Sie das schnell vom Tisch kriegen könnten.«
»Der Finanzminister?«, wiederholte Leclerc erstaunt. »Warum interessiert der sich dafür?«
»Na ja, das Übliche, nehme ich an. Für die Reichen gelten andere Gesetze. Halten Sie mich immer auf dem neuesten Stand, okay?«
Nachdem er aufgelegt hatte, stieß Leclerc eine Reihe unterdrückter Flüche aus. Er trottete zu dem Kaffeeautomaten im Gang und holte sich einen sehr schwarzen und außergewöhnlich miesen Espresso. Seine Augen juckten, seine Nebenhöhlen schmerzten. Er war zu alt für so was, dachte er. Dabei gab es gar nicht mehr viel, was er noch tun konnte: Zur Befragung des Hauspersonals hatte er schon einen seiner Untergebenen geschickt. Er ging wieder ins Büro, rief seine Frau an und sagte ihr, dass er erst nach dem Mittagessen nach Hause kommen werde. Dann loggte er sich ins Internet ein. Vielleicht konnte er etwas über Dr. Alexander Hoffmann, Physiker und Hedgefonds-Manager herausfinden. Zu seiner Überraschung fand er fast nichts – keinen Eintrag bei Wikipedia, keinen Zeitungsartikel und nicht ein einziges Foto. Und trotzdem hatte der Finanzminister sein persönliches Interesse geäußert.
Was zum Teufel war überhaupt ein Hedgefonds, fragte er sich. Er schaute nach: »… ein privater Investmentfonds, der eine Vielfalt von Anlagegegenständen und -strategien einsetzt, um ein abgesichertes Portfolio zu unterhalten, das die Fonds-Investoren bei fallenden Kursen schützt und bei steigenden Kursen hohe Renditen erwirtschaftet.«
Auch nicht schlauer als zuvor ging Leclerc ein weiteres Mal seine Notizen durch. Hoffmann hatte gesagt, dass er seit acht Jahren im Finanzsektor arbeite. Davor war er sechs Jahre lang an der Entwicklung des Large Hadron Collider beteiligt gewesen. Zufällig kannte Leclerc einen ehemaligen Polizeiinspektor, der jetzt für den CERN -Sicherheitsdienst arbeitete. Er rief ihn an, und eine Viertelstunde später saß er in seinem kleinen Renault. Auf der Route de Meyrin fuhr er im morgendlichen Berufsverkehr langsam in nordwestlicher Richtung, vorbei am Flughafen und durch das triste Gewerbegebiet von Zimeysa.
Vor den fernen Bergen schien die riesige rostfarbene CERN -Holzkuppel aus dem Ackerland aufzuragen wie eine Sechzigerjahrevision von der Zukunft: ein gigantischer Anachronismus. Leclerc parkte gegenüber der Kuppel und ging ins Hauptgebäude. Er nannte seinen Namen und bekam einen Besucherausweis, den er sich an die Windjacke klemmte. Während er auf seinen Bekannten wartete, schaute er sich die kleine Ausstellung im Empfangsbereich an. Offensichtlich befanden sich direkt unter ihm in einem 27 Kilometer langen, kreisförmigen Tunnel 1600 supraleitende Magnete, von denen jeder fast dreißig
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