Angst
groß, gut aussehend, grauhaarig. Ein Asket, dachte sie, oder einfach nur ein ernster Mensch. Er hätte ein Mönch sein können, nein, mehr als das, er besaß Autorität, ein Abt vielleicht. »Eine drollige Geschichte«, sagte sie. »Freunde hatten mich damals auf die Party mitgenommen. Ich glaube, wir haben uns nie richtig kennengelernt, oder?«
»Nein, glaube nicht.«
»Nun ja, nachträglich vielen Dank. Sie haben mein Leben verändert.«
Er lächelte nicht. »Ich habe Alex schon seit Jahren nicht mehr gesehen. Ich hoffe doch, dass er noch kommt.«
»Das hoffe ich auch.« Wieder warf sie einen Blick zur Tür in der Hoffnung, dass Alex auftauchen würde. Bis jetzt hatte er ihr nur diesen schweigsamen Bodyguard geschickt, der wie der Türsteher eines Nachtclubs am Eingang der Galerie stand und hin und wieder etwas in den Ärmel seiner Jacke flüsterte. »Was hat Sie hergeführt? Besuchen Sie die Galerie regelmäßig, oder sind Sie nur zufällig vorbeigekommen?«
»Weder noch. Alex hat mich eingeladen.«
»Alex?« Jetzt kapierte sie. »Entschuldigung, aber ich hatte keine Ahnung, dass Alex Einladungen verschickt hat. Das passt gar nicht zu ihm.«
»Ich war selbst ein bisschen überrascht. Vor allem weil wir bei unserer letzten Begegnung eine kleine Meinungsverschiedenheit hatten. Ich wollte das eigentlich wieder ins Lot bringen, und jetzt ist er gar nicht da. Na ja, da kann man nichts machen. Mir gefallen Ihre Arbeiten.«
»Danke.« Sie war immer noch mit dem Gedanken beschäftigt, dass Alex ohne ihr Wissen eigene Gäste eingeladen hatte. »Vielleicht möchten Sie ja eine kaufen?«
»Ich fürchte, die Preise bewegen sich etwas jenseits der Möglichkeiten eines CERN -Gehalts.« Er schenkte ihr sein erstes, dafür aber umso wärmeres Lächeln – wie ein Sonnenstrahl in einer grauen Landschaft. Dann griff er in die Brusttasche seines Jacketts. »Wenn Sie mal Lust haben, ein Kunstwerk aus Teilchenphysik zu schaffen, rufen Sie mich an.« Er gab ihr seine Karte:
Professor Robert WALTON
Abteilungsleiter Rechenzentrum
CERN Europäische Organisation für Kernforschung
1211 Genf 23 – Schweiz
»Das hört sich fabelhaft an.« Sie steckte die Karte ein. »Danke. Könnte gut sein, dass ich darauf zurückkomme. Und jetzt erzählen Sie mir von Ihnen und Alex …«
»Kompliment, meine Liebe, du bist clever«, sagte jemand in ihrem Rücken. Gabrielle spürte eine Hand an ihrem Ellbogen, drehte sich um und blickte in das breite, blasse Gesicht und die großen, grauen Augen von Jenny Brinkerhof, wie sie eine Engländerin Mitte dreißig, die mit einem Hedgefonds-Manager verheiratet war. Gabrielle war aufgefallen, dass es in Genf inzwischen von Londoner Wirtschaftsmigranten wimmelte, die vor dem neuen Steuersatz von fünfzig Prozent aus der Heimat geflohen waren. Sie schienen über nichts anderes zu reden als darüber, wie schwer doch eine anständige Schule zu finden sei.
»Jen, ich freue mich, dass du kommen konntest«, sagte sie.
»Ich freue mich, dass du mich eingeladen hast.«
Sie küssten sich, und Gabrielle drehte sich wieder um, um ihr Walton vorzustellen, doch der war schon weitergewandert und unterhielt sich mit dem Mann von der Tribune . Das war das Problem bei Stehpartys: Man blieb bei einer Person hängen, mit der man gar nicht reden wollte, während die, mit der man viel lieber geredet hätte, nur ein paar Meter neben einem stand. Sie fragte sich, wie lange es dauern würde, bis Jen auf ihre Kinder zu sprechen kommen würde.
»Du weißt ja gar nicht, wie ich dich darum beneide, dass dir dein Leben so viel Zeit lässt, all das hier zu machen. Ich meine, wenn es etwas gibt, was einem von drei Kindern wirklich restlos ausgetrieben wird, dann ist es der kreative Schwung …«
Über Jens Schulter sah Gabrielle, wie eine Gestalt, die ihr fremd, aber doch irgendwie vertraut vorkam, die Galerie betrat. »Wenn du mich einen Augenblick entschuldigen würdest, Jen.« Sie ließ Jen stehen und ging zur Tür. »Inspektor Leclerc?«
»Madame Hoffmann.« Leclerc gab ihr höflich die Hand.
Ihr fiel auf, dass er noch dieselben Sachen trug wie um vier Uhr morgens: eine dunkle Windjacke, ein weißes, am Kragen inzwischen unübersehbar graues Hemd und eine schwarze Krawatte, deren schmales Ende wie bei ihrem Vater unter dem breiten hervorschaute. Die Stoppeln seiner unrasierten Wangen sahen aus wie eine Flechte, die bis zu den dunklen Tränensäcken hinaufreichte. Er wirkte in dieser Umgebung völlig deplatziert. Eine der
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