Angst
getünchte Raum in einer Seitenstraße gleich um die Ecke nach dem MAMCO , Genfs wichtigster Galerie für zeitgenössische Kunst, war früher eine Citroën-Werkstatt gewesen.
Fünf Monate zuvor hatte Gabrielle ohne Alex – er hatte sich kategorisch geweigert, sie zu begleiten – eine weihnachtliche Wohltätigkeitsauktion im Hotel Mandarin Oriental besucht. Dort hatte sie zufällig neben Monsieur Bertrand, dem Besitzer der Galerie, gesessen. Dieser schwatzte ihr die Erlaubnis ab, sie am nächsten Tag in ihrem Studio zu besuchen, weil er sich anschauen wollte, woran sie gerade arbeitete. Nachdem er sie zehn Minuten lang geradezu unverschämt umschmeichelt hatte, hatte er ihr das Angebot gemacht, ihre Arbeiten unter der Bedingung auszustellen, dass sie sich die Einnahmen teilten und Gabrielle die Unkosten übernahm. Natürlich hatte sie sofort begriffen, dass Bertrand weniger an ihrem Talent lag als an Alex’ Geld. Im Laufe der letzten Jahre hatte sie beobachten können, dass großer Reichtum wie ein unsichtbarer Magnet wirkte, dessen Anziehungs- und Abstoßungskraft die Menschen aus ihren normalen Verhaltensmustern riss. Sie hatte gelernt, damit zu leben. Es konnte einen wahnsinnig machen, wenn man herausfinden wollte, ob die Absichten eines Menschen ehrlich oder falsch waren. Aber sie wollte eine Ausstellung. Sie wollte sie so sehr, wie sie nichts in ihrem Leben gewollt hatte – außer einem Kind.
Bertrand hatte sie gedrängt, zur Eröffnung eine Party zu veranstalten: Das werde das Interesse anheizen, sagte er, und für etwas Publicity sorgen. Gabrielle hatte gezögert. Sie wusste, dass ihr Mann schon Tage vorher Qualen leiden würde. Am Ende hatten sie einen Kompromiss geschlossen. Morgens um elf würden ohne jedes Tamtam die Türen geöffnet, und zwei junge Kellnerinnen in weißer Bluse und schwarzem Minirock würden jeden eintretenden Gast mit einem Glas Pol-Roger-Champagner und Kanapees begrüßen. Gabrielles Sorge, dass niemand auftauchen würde, erwies sich als unbegründet: Es kamen Stammkunden der Galerie, die per E-Mail benachrichtigt worden waren, Passanten, die die Aussicht auf einen Gratisdrink über die Schwelle lockte, Freunde und Bekannte, die sie schon Wochen vorher angerufen oder per E-Mail informiert hatte – Namen aus alten Adressbüchern, Leute, die sie schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Alle waren gekommen. Schon um die Mittagszeit hatte sich die Eröffnung der Ausstellung zu einer stattlichen Party mit mehr als hundert Personen ausgewachsen, die sich bis auf den Gehweg ausdehnte, wo sich vor allem die Raucher versammelten.
Gabrielle stand mit ihrem zweiten Glas Champagner in der Menge und war rundum zufrieden. Ihr Œuvre bestand aus 27 Objekten – alles, was sie in den vergangenen drei Jahren fertiggestellt hatte, mit Ausnahme ihres allerersten Selbstporträts, das Alex hatte behalten wollen und das im Salon ihres Hauses auf dem Couchtisch stand. Als alle Teile passend zusammengestellt und ausgeleuchtet waren, vor allem die Glasstiche, wirkten sie tatsächlich wie eine solide, professionelle Werkschau: mindestens so eindrucksvoll wie alles, was sie selbst bei Vernissagen gesehen hatte. Niemand hatte gelacht. Die Leute hatten sorgfältig hingeschaut und wohlüberlegte, meist lobende Kommentare abgegeben. Der ernste junge Reporter der Tribune de Genève hatte ihre schlichte Linienführung mit Giacomettis Topografie des Kopfes verglichen. Das Einzige, was ihr noch Sorgen bereitete, war die Tatsache, dass noch nichts verkauft war, was sie den hohen Preisen zuschrieb, auf denen Bertrand bestanden hatte – von 4500 Schweizer Franken für die Kopf- CT s der kleinsten Tierköpfe bis zu 18 000 Schweizer Franken für das große MRT -Porträt namens The Invisible Man . Sollte sie bis zum Abend nichts verkauft haben, so würde sie dies als Demütigung empfinden.
Sie versuchte, das Thema zu verdrängen und auf die Worte des Mannes zu achten, der ihr gegenüberstand. Bei all dem Krach konnte sie ihn kaum verstehen. Sie musste ihn unterbrechen, und so legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Entschuldigung, wie war Ihr Name noch gleich?«
»Bob Walton. Ich bin ein alter Kollege von Alex aus seiner Zeit am CERN . Ich habe gerade gesagt, wenn ich mich recht erinnere, haben Sie beide sich auf einer Party in meinem Haus kennengelernt.«
»Mein Gott, ja«, sagte sie. »Sie haben recht. Wie geht es Ihnen?« Sie schüttelte ihm die Hand und schaute ihn zum ersten Mal richtig an. Er war schmal,
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