Angst
Kellnerinnen näherte sich ihm mit einem Tablett Champagner. Gabrielle rechnete damit, dass er ablehnen würde. Taten das nicht alle Polizisten im Dienst, jeden Tropfen Alkohol ablehnen? Aber Leclercs Gesicht hellte sich auf, und er sagte: »Hervorragend, danke.« Als hätte er Angst, er könnte es zerbrechen, fasste er das Glas vorsichtig am Stiel an. Er nahm einen kleinen Schluck und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. »Sehr gut, der kostet bestimmt achtzig Franken die Flasche, oder?«
»Keine Ahnung, um die Getränke hat sich das Büro meines Mannes gekümmert.«
Der Fotograf von der Tribune kam herüber und machte ein Foto von ihnen beiden. Leclercs Windjacke roch muffig, uralt und feucht. Leclerc wartete, bis der Fotograf wieder gegangen war, dann sagte er: »Die Kriminaltechniker haben von Ihrem Handy und den Küchenmessern ein paar ausgezeichnete Fingerabdrücke sichergestellt. Leider haben sich keine Übereinstimmungen mit Personen aus unserem Archiv ergeben. Zumindest in der Schweiz hat der Einbrecher kein Strafregister. Tja, ein Phantom. Wir haben Interpol eingeschaltet.« Er nahm sich ein Kanapee von einem vorbeischwebenden Tablett und schob es sich ganz in den Mund. »Wo ist Ihr Mann? Ich sehe ihn nirgends. Ist er nicht da?«
»Noch nicht. Warum? Wollen Sie ihn sprechen?«
»Nein. Ich möchte mir Ihre Arbeiten ansehen.«
Guy Bertrand, dem sie von dem Einbruch erzählt hatte, schlenderte auf sie zu. Er war offensichtlich neugierig. »Alles in Ordnung?«, fragte er. Gabrielle machte den Galeriebesitzer mit dem Polizisten bekannt. Bertrand war ein fülliger junger Mann, der von Kopf bis Fuß in schwarze Seide gehüllt war: Armani-T-Shirt, Jacke, Hose, holistische Zen-Slipper. Er und Leclerc hätten verschiedenen Spezies angehören können, so verständnislos schaute der eine den anderen an.
»Ein Polizeiinspektor«, wiederholte Bertrand erstaunt. »Dann müsste Sie eigentlich The Invisible Man interessieren.«
»The Invisible Man?«
»Kommen Sie, ich zeige es Ihnen«, sagte Gabrielle und nahm dankbar die Gelegenheit wahr, die beiden trennen zu können. Sie führte Leclerc zu dem größten Ausstellungsstück, einem von unten angestrahlten Glaskasten, in dem sich ein nackter Mann in Lebensgröße befand, der leicht über dem Boden zu schweben schien und so aussah, als wäre er aus blassblauen Spinnfäden zusammengesetzt. Die Wirkung war gespenstisch und verstörend. »Das ist Jim, The Invisible Man. «
»Und wer ist Jim?«
»Er war ein Mörder.« Leclerc drehte sich ruckartig zu ihr um und schaute sie an. »James Duke Johnson«, sagte sie und freute sich über seine Reaktion. »Im Jahr 1994 in Florida hingerichtet. Vor seinem Tod hat ihn der Gefängnisgeistliche überredet, seinen Körper der Wissenschaft zu vermachen.«
»Auch der öffentlichen Zurschaustellung?«
»Das bezweifele ich. Sind Sie schockiert?«
»Ja, zugegeben.«
»Gut. Genau das wollte ich erreichen.«
Leclerc brummte etwas und stellte sein Champagnerglas ab. Er trat näher an den Glaskasten heran, stemmte die Hände in die Hüften und schaute sich das Objekt genau an. Sein über den Gürtel quellender Bauch erinnerte Gabrielle an Dalís schmelzende Uhren. »Wie haben Sie es geschafft, dass man glaubt, er würde schweben?«, fragte er und nahm sein Glas wieder in die Hand.
»Berufsgeheimnis.« Gabrielle lachte. »Nein, ich verrat’s Ihnen. Ist ziemlich einfach. Ich nehme Schnittbilder von einer MRT -Aufnahme, lege sehr klares Glas darauf, zwei Millimeter starkes Mirogard-Glas, das klarste, das es gibt, und zeichne die Linien nach. Nur nehme ich manchmal anstelle von Feder und Tinte einen Zahnarztbohrer, um die Linien zu stechen. Bei Tageslicht kann man das kaum erkennen. Aber wenn man in einem bestimmten Winkel künstliches Licht darauf richtet, dann bekommt man diesen Effekt.«
»Bemerkenswert. Und was hält Ihr Mann davon?«
»Er hält das für eine Obsession, die mir nicht guttut. Nun ja, er hat seine eigenen Obsessionen.« Sie trank ihren Champagner aus. Farben, Geräusche, Sinneseindrücke – all ihre Wahrnehmungen schienen auf angenehme Weise intensiver zu sein. »Sie müssen uns für ein ziemlich sonderbares Paar halten.«
»Glauben Sie mir, Madame, in meinem Beruf lerne ich Menschen kennen, die sind so sonderbar, das können Sie sich nicht einmal ansatzweise vorstellen.« Plötzlich sah er ihr mit seinen blutunterlaufenen Augen mitten ins Gesicht. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen
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