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Angstblüte (German Edition)

Angstblüte (German Edition)

Titel: Angstblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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er nicht, was er sagen würde. Immer noch nicht. Er stellte sich am liebsten vor, ihn würde, nach Helen gefragt, eine chamäleonische Potenz durchfluten, er würde förmlich spüren, wie sein Äußeres sich vollkommen verändere, daß er, sozusagen ohne sich verstellen zu müssen, ganz kalt antworten könnte: Gnädige Frau, mit wem Sie mich verwechseln, weiß ich nicht, aber daß Sie mich verwechseln, ist sicher. Guten Tag. Und weg wäre er. Er ging immer auf der Straßenseite der ungeraden Nummern. Jedesmal, wenn er ohne Kontaktleistung durchgekommen war, war er froh. Die Osterwaldstraße war kein Quartier kleinbürgerlicher Nachbarspflege, dafür aber hielt er es für möglich, daß irgendeine Helenbekannte die Polizei informierte.
    Im Briefkasten ein Brief, großes Format, Absender: Joni Jetter. Das paßt. Er hatte sich für diesen Abend vorgenommen, die gesammelte Berichterstattung über das Othello-Projekt zu lesen. Im Haus mied er alle Räume, die er zusammen mit Helen bewohnt hatte. Er ging immer sofort hinauf in sein Zimmer, schlief dort, aß dort, was er mitgebracht hatte. Das Haus wirkte, seit Helen fort war, hohl. Als sie noch dagewesen war, aber gerade nicht im Haus, hatte das Haus nicht hohl gewirkt. Er würde Helen noch an diesem Abend schreiben. Sollte sie herausfinden, was möglich war.
    Zuerst Jonis DIN-A4-Brief. Er bemühte sich, Hast zu vermeiden. Und las.
    Lieber Karl,
    da Du der erste warst, der mich als Psalmistin erlebte, vielleicht sogar gelten ließ, wirst Du von jetzt an immer mit dem Neuesten bekannt gemacht werden. Es sei denn, Du winkst ab.
    Der Film ist prächtig angelaufen, Du wirst Geld vermehren. Wie es sich gehört.
    Es grüßt Dich viele Male
    Deine Joni
     
    Mädchenpsalm. Frauenpsalm. Psalm.
    Gäbe es dich, könnt ich nicht beten zu dir, Gott,
    ein Götze wärst du, der Himmel ein Kaufhaus,
    bewacht von keuschen Kameras.
    Vor Angst bin ich weich, verehre Unbekümmerte,
    denen die Haare wachsen wie wild und können sich
    nicht wehren gegen die Unabhängigkeit
    tanzlustiger Glieder. In mir verborgen leb ich.
    Ich ahne mich, aber ohne euch weiß ich mich nicht.
    Bereit zu sein zehrt.
    Angenehm ist es bei den Verzweifelten,
    sie kennen keine Gerechtigkeit.
    Er saß mit geschlossenen Augen. Er sah die bis zu jedem Horizont mit dunklem Reisig zugedeckte Welt. Er erzwang eine haltlose Nichtempfindung.
    Bitte, die Zeitungen jetzt.
    Karl von Kahn hatte alle Berichte, Interviews und Kritiken, die ihm von Bocca di Leone zugeschickt worden waren, aufgeklebt. Daß die Uraufführung bei der Berlinale gut angekommen ist, hatte er mitgekriegt. Strabanzer war als bester Hauptdarsteller ausgezeichnet worden. Er hatte nicht nur Regie geführt, sondern auch, als Rodrigo, den Regisseur des Films gespielt. Joni war preislos geblieben. Aber in den zur Unterhaltung gemachten Zeitungen war sie eine Sensationsfigur. Wilde Bilder überall. Die schaute er so lange an, bis er sicher war, daß es sich um Papier handelte. Es tat weh, daß es, als Joni in Berlin gewesen war, dort heftig geschneit hatte. Und die Sonne hatte geschienen. Auf das frischverschneite Berlin. Joni und Schnee. Das spürte er als Schmerz. Wie lebendig sie ist im Schnee. Als er hier vor ein paar Wochen die frischverschneite Osterwaldstraße erlebt hatte, war sein erster Gedanke: Joni im Schnee. Und der grell alles ausstellenden Sonne hatte er leise zugerufen: Sonne, schein doch nicht so.
    Er las jetzt alles Wort für Wort und setzte aus den vielen Artikeln den Film zusammen, den er, wie er sah, allenfalls in Umrissen kannte. Am Leben entlang, aber das Leben durch die Kunst steigern. Daran dachte er natürlich, als er las, daß Ina Kosellek ermordet wird. Erwürgt wird sie. Verhaftet wird ziemlich schnell ihr Geliebter Elmar von Egg. Der hat sich verdächtig gemacht durch rabiate Briefe an frühere Liebhaber Inas. Die waren aus Inas Notizbüchern sehr schnell gefunden worden. Und durch sie die Briefe, die sie von Elmar von Egg bekommen hatten, samt Schweizer Armeemesser. Für die Tatnacht hatte Elmar kein Alibi. Er war ja von seiner Frau verlassen worden und wohnte allein. Er versuchte auch gar nicht, seine Unschuld zu beweisen. Der Tod Inas hatte ihn so getroffen, daß für ihn die Frage, ob er es gewesen oder wer es gewesen sei, bedeutungslos war. Die Verhöre ließ er über sich ergehen, saß apathisch da und schüttelte nur immer wieder den Kopf. Der einzige sinnvolle Satz, der ihm zu entlocken war, hieß: Das hätte nicht geschehen

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