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Angstblüte (German Edition)

Angstblüte (German Edition)

Titel: Angstblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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entgegen, hatte ihn immer noch nicht wahrgenommen, dann aber doch. Sie blieb sofort stehen. Das Menschenmeer, das diese Gegend in jeder Jahreszeit überflutet, hätte auch ihr Gelegenheit gegeben, ihn nicht zu sehen. Sie stand, er hörte nicht auf, sich ihr zu nähern. Er hatte kein Sündergesicht, das spürte er. Sein Gesicht wird nie mehr etwas ausdrücken. Als er ihr nahe genug war, blieb er auch stehen. Er wartete auf nichts. Er würde vor ihr stehen bleiben. In ihrem Gesicht ging etwas vor, das war unübersehbar. Dann holte sie aus und schlug zu. Sie war Linkshänderin. Das war immer wieder überraschend. In diesem Augenblick war es so überraschend, wie es noch nie gewesen war. Ganz von selber hielt er ihr jetzt die andere Gesichtshälfte hin. Nicht aufdringlich, aber doch so, daß sie es bemerken mußte. Sie bemerkte es auch. Aber nach dem Schlag hatte ihre Rechte nach der Linken gegriffen. Die hielt sie. Die Linke lag auf der Handfläche der Rechten. Lag da wie verletzt. Als habe der Schlag wehgetan. Sein Gesicht war aus Stein. Als sie merkten, daß sie beide auf diese Hand schauten, schauten sie auf, sahen einander an. Aber bevor einer im Gesicht des anderen etwas entdecken konnte, worauf zu reagieren möglich gewesen wäre, drehte sie sich um. Er blieb stehen, bis sie im Menschenmeer verschwunden war, dann ging er weiter. Er hätte sagen sollen, daß er ihr schreiben werde, heute noch, daß er nicht länger in ihrem Haus wohnen könne, daß er, wenn sie weiterhin nichts als abwesend sei, ihr Haus im Stich lasse.
    Daß sie ihn geschlagen hatte, tat ihm gut. Was das hieß oder bedeutete, wollte er so wenig wissen wie, was ein Traum bedeuten wollte. Er konnte den Schlag in nichts anderes übersetzen. Der Schlag einer Linkshänderin auf seine rechte Backe. Der Schlag hatte ihm gutgetan. Seine Backe glühte. Wie nah war er jetzt Diego? Er konnte nicht mehr belogen werden. Konnte sich nicht einmal selber belügen. Diegos Selbstbelüge-Leistung war erstaunlich. Oder war die Szene im Zelt nichts als Fernsehen gewesen? Wie Strabanzer und Rudi-Rudij verdankte Gundi ihren Erfolg immer der Am-Leben-entlang-Tour. Mußte er wissen, wie wenig oder wie sehr Diego belogen wurde? Mußte er nicht. Daß er überhaupt hingegangen war, war ein Fehler. Ein Fehler, typisch für ihn. Diego wickelte einfach sein Programm ab. Wie es seinem Freund Karl ging, interessierte ihn kein bißchen. Nur sein Programm. Punkt eins: Schloß Sandrin, die große Granitza-Auktion, perfekt und nicht enden könnend vorgetragen wie immer, du hast zuzuhören. Punkt zwei: Die weggegrabschten zwei Komma sechs Millionen, locker verkauft als Panik pur, kein Überblick mehr, kriegst du, wenn’s paßt, zurück mit Zinsen. Punkt drei: Gundi ist nachts zurückgekommen, das wollen wir doch einmal sehen, ob du den Fernsehtatsachen glaubst oder mir.
    Diego war also immer noch Diego. Hatte aber zugenommen. Vor allem im Gesicht. Seine Backen waren über die Ufer getreten. Schmale Stirn, dann links und rechts die sich hinausbiegenden Backen. Mach dir nichts vor. Du hast das hinter dir zu haben. Du darfst nicht mehr sagen: Eine Freundschaft, die gewesen ist, hört nicht auf, gewesen zu sein. Genau dafür gibt es in der Sprache die Vorvergangenheit, die Mehralsgewesenseinsvergangenheit. Die Freundschaft war gewesen. Basta.
    Man hat, wenn man keinen Freund mehr hat, schon zu lange gelebt. Je länger eine Freundschaft besteht, desto weniger Anlaß hat sie. Es ist, als verbrauche sich der Freundschaftsstoff im Lauf der Zeit. Oder: Je genauer man einen anderen Menschen kennenlernt, desto weniger kann man mit ihm befreundet sein. Kenntnis tut keiner Beziehung gut. Freundschaft ist von allen Einbildungen die schönste. Erlischt sie, darf’s dich frieren. Man selber würde noch an der Illusion festhalten, man täte alles, den Freund nicht merken zu lassen, daß man die Freundschaft über ihre Anlässe hinaus eigensinnig und unbelehrbar weiter produziert, man ist schöpferisch. Dann merkt man am Freund, daß es dem noch viel mehr Mühe macht als einem selbst, die Freundschaft aufrechtzuerhalten. Zwei Freunde, die einander nicht sagen können, daß sie keine mehr sind, das ist sowohl das Gewöhnlichste wie das Schlimmste.
    Da war er zu Hause angelangt. Und war zum Glück weder gegrüßt noch angesprochen worden. Er mußte immer damit rechnen, daß ihn irgendeine Frau nach Helen fragte. Wenn Hertha vor der Ladentür stünde und fragte, ob Helen krank oder verreist sei, wüßte

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