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Angstblüte (German Edition)

Angstblüte (German Edition)

Titel: Angstblüte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Walser
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gestört, du bist eine Katastrophe für diese Straße des friedlichen Wohnens.
    Karl rannte fast. Es hatte keinen Sinn, so zu tun, als sehe er niemanden, und sich dann selber einzubilden, unsichtbar zu sein. Die frühabendlich trauliche Osterwaldstraße war die Generalprobe für den Eintritt ins Haus. Karl grüßte und wurde gegrüßt. Aber zum Stehenbleiben und Plaudern ließ er sich nicht verführen. Ein bißchen eilig durfte er es schon haben.
    Das Haus. Helens Haus. Streng und steil das Dach. Das steilste Dach in der ganzen Straße. Helens Vater hatte das so gewollt. Bloß keine Gemütlichkeit. Und gegen die Straße abgeschirmt durch gewaltige Thujen. Der Weg vom Gartentor führt nicht auf die Haustür zu. Dann sähe man ja von draußen, wenn die Haustür aufginge, gar ins Haus hinein. Das hat Herr Doktor Wieland nicht gewollt. Dieses Haus hat seine Vorderseite zur Seite hin.
    Er mußte die Tür aufschließen und in der Halle so laut grüßen, daß Helen, egal wo sie gerade war, hörte, er sei da. Und sei froh, daß er da sei. Endlich wieder da. Bei seiner lieben, sanft fröhlichen Frau.
    Helen stand sofort in der Tür zu ihrem Arbeitszimmer, die goldene Brille hing wie ein Schmuck auf ihrer meergrünen Bluse. Dem Pfeifenraucher Gammertinger, sagte sie, sind drei Zehen amputiert worden.
    Karl hätte bald gesagt: Gratuliere. So freute ihn diese Nachricht. So willkommen war sie ihm.
    Und wer ist Herr Gammertinger, fragte er.
    Er wußte natürlich, Herr Gammertinger, das war der Herr, der sich täglich auf dem die Straße begleitenden Fußweg sehen ließ, der so tat, als meditiere er unter inspirierenden Bäumen gehend, der aber, wie Helen wußte, von seiner Frau hinausgeschickt wurde, damit er seine romantisch gebogene Pfeife im Freien rauche. Und Helen wußte, daß Karl das wußte, daß also die Frage, wer Herr Gammertinger sei, typisch Karl sei. Er wollte damit sagen: Wer ist schon Herr Gammertinger beziehungsweise: Was gehen mich die drei Zehen des Herrn Gammertinger an. Und durch seine flapsige Gegenfrage schaffte er es, daß Helen sich weiter mit der bis ans Zynische oder Bösartige reichenden Flapsigkeit ihres Mannes beschäftigte. Das tat sie heftig, indem sie an die letzten sieben Begegnungen mit Herrn Gammertinger erinnerte. Helen wußte noch, worüber gesprochen wurde. Die Osterwaldstraße mit ihren Gehwegen ist eine Gesprächsstraße. Und Helen hat das von früher Kindheit an erlebt.
    Karl mußte ihr doch noch hinsagen, daß er auch hätte eintreten können mit den neuesten Nachrichten über Amei Varnbühler-Bülow-Wachtels Fuß, den die Nichtsalschirurgen amputieren wollten und der gerettet worden ist in der Nußbaumerstraße durch den Präsidenten der Diabetesfuß-Gesellschaft, der von der Seite reingegangen ist und ein Stück Knochen rausgenommen hat, so daß ihr jetzt nur zwei Zehen fehlen. Gut, drei Gammertinger-Zehen gegen zwei Amei-Zehen. Das Match steht drei zu zwei für Helen.
    Helen wechselte ins Seriöse. Frau Biselski habe acht Tage im Bett liegen müssen, nachdem sie einen Tag bei von Kahns geputzt habe. Nicht selber habe sie das sagen können, sondern durch ihren Mann sagen lassen. Der von Kahnsche Haushalt sei zu ungepflegt. Und der Mann habe auch noch gesagt, er sei dagegen, daß seine Frau putzen gehe und nachher daheim herumliege.
    Weil die Putzfrauenjeremiade Helens nie endendes Elend war, mußte Karl Helen jetzt streicheln. Das war Sitte, daß er an diesem Elend streichelnd teilnahm. So kam es, daß Helen sich ihm anschmiegte. Der Putzfrauenkummer quälte Helen. Sie litt darunter, daß keine Putzfrau bei ihr blieb. Sie hielt sich nicht für pedantisch. Sie sagte jeder neuen Putzfrau, hier im Haus könne jeder seine Arbeit einteilen, wie er es für richtig halte. Alles vergebens. Keine blieb. Und wenn eine blieb, war es eine asthmatisch um Luft ringende, sich weder bücken noch strecken könnende zuckerkranke Zweizentnerfrau. Karl begegnete den aufeinander folgenden Frauen kaum. Er kriegte nur Helens Jammer mit. Und mußte dann eben trösten.
    Er zog Helen an sich, küßte sie, schob sie, ohne sie loszulassen, von sich, sah ihr ins Gesicht, zog sie wieder her, dann führte er sie eher heftig als gelinde ins Schlafzimmer, löste ihr die Kleider vom Leib und trug sie zum Bett und warf sie ein bißchen ins Weiche. Helens Überraschtsein beantwortete er mit wohldosierter Rücksichtslosigkeit. Es kam darauf an, daß kein Gespräch möglich wurde. Helen färbte ihr Überraschtsein mit Komik.

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