Angstblüte (German Edition)
Gedanken, von sie beherrschenden Gedanken. Diese Frau kämpfte gegen Aussichtslosigkeit. Am liebsten hätte er zu dieser Frau gesagt: Je älter man wird, desto mehr muß man lügen. Es gibt nichts mehr, was von diesem Zwang zur Lüge verschont bleibt. Das Alter, das ist der Zwang zur Lüge schlechthin. Diese Frau hatte eine Art Freudebereitschaft im Gesicht. Ihre dunklen Augen drückten Erlebnishunger aus. Ihr Mund war ein Strich der Entschlossenheit. Und dieser Mann merkte nichts. Vielleicht ein berühmter Chemiker. Wenn der Mann nicht dabeigewesen wäre, hätte er mit dieser Frau plaudern können, hätte sagen können: Sie haben vier Semester in Duisburg studiert, Englisch und Geschichte, und jetzt reicht’s nicht einmal für ein Kreuzworträtsel, das kenn ich, oh, wie ich das kenne. Ein Akademiker, der zur Tür begleitet, am Oberarm berührt und zwei Wochen später Geschlechtsverkehr vor Kunstdruckbänden, o Joni. Es ging um nicht weniger als um Jungfräulichkeit. Wenn er alles erfuhr, alles, was getan und gesagt worden war, wußte er, was noch nicht getan und gesagt worden war. Das würde er dann tun und sagen. Wenn es überhaupt noch Ungetanes, Ungesagtes gab. Ohne diese Hoffnung wollte er nicht leben.
Karls Blick wurde angezogen von einem jungen Paar auf der übernächsten Bank. Die küßten einander so, daß es aussah, als würden sie einander trinken, einander austrinken. Offenbar ein nicht zu löschender Durst. Und auch das, was sie tranken, ging nicht aus. Sie saugten aus einander heraus, was herauszusaugen war. Sie saugten einander aus. Das hätte er gern Joni und ihrem Kußpädagogen vorgeführt. Aber da gab es auch noch zwei Alte. Klaffende Münder, hängende Bäuche, todschwer auf ihren Sitzen. Ovid soll geschrieben haben, gleich scheußlich seien alte Liebende und alte Soldaten.
Er mußte sich vorbereiten auf Helen. Er stieg schon an der Dietlindenstraße aus, um länger gehen zu können, um vom Gehen belebt zu sein, wenn er Helen gegenüberträte. Er würde nichts von dem sagen, was er hätte sagen wollen, wenn er sie telefonisch erreicht hätte. Er würde eine vollkommene Erfindung präsentieren. So vollkommen, daß Helen überhaupt keinen Grund haben würde, nachzufragen, mißtrauisch zu sein und so weiter. Perfekt. Das schwebte ihm vor: perfekt zu sein. Heimzukommen von nichts als einem Geschäft. Allerdings von einem nicht alltäglichen Geschäft. Erstens Film, zweitens zwei Millionen. Das durfte er doch in einem anderen Ton vortragen, als wenn er nur von der Kardinal-Faulhaber-Straße zurückkam und zu melden hatte, daß es Amei Varnbühler-Bülow-Wachtel gelungen war, den Präsidenten der Deutschen Diabetesfuß-Gesellschaft für ihren Fuß zu interessieren, was zur Folge hatte, daß ihr nicht der Fuß, sondern nur zwei Zehen amputiert worden sind. Er wußte, mit welchen Details er eine Geschichte würzen mußte, um Helens Interesse sofort erlöschen zu lassen. Finanzierungsgeschichten langweilten sie. Je genauer er die erzählte, desto mehr mußte Helen ihr Gähnen verbergen. Darauf konnte er sich verlassen. Und wo war jetzt sein Übermut? Joni fehlte. Also fehlte sein Übermut.
Wenn er beim Lodenfrey-Haus in die Osterwaldstraße einbog, empfand er die Straße immer als besonders heimelig, weil sie von dieser Seite aus für Autos mit amtlich wirkenden Pfählen gesperrt war. Aber heute wurde die Heimeligkeit für den Eintretenden zur Prüfung. Bist du noch würdig, in dieser grün überwölbten Heimeligkeit zu wohnen? Bäume auf jeder Seite, und jeder Baum fragte: Wo kommst du her? Was hast du getan? Uns machst du nichts vor, riefen sie ihm nach. Du kannst zwar so tun, als gebe es uns nicht, aber wir sehen doch, daß du schwächer wirst mit jedem Schritt. Wahrscheinlich reicht dein vorgetäuschter Mut gar nicht bis zum Haus 106 A. Du kehrst vorher um, rennst zurück, hinaus aus der Osterwaldstraße, die ein Boulevard der Sittlichkeit ist. Keiner und keine von denen, die jetzt abendlich zurückkehren aus der Stadt, kommt mit einer solchen Scheußlichkeitslast zurück wie du. Schau, drüben der Herr Professor, der immer schon aus großer Entfernung grüßt, lachend grüßt, der kann jetzt gleich hineingleiten in die Willkommensmusik seines Hauses, seiner Frau, seiner lebensstarken Frau. Wie du bei Hertha an der offenen Ladentür vorbeikommen willst, wo die Nachbarn wie Bienen aus- und einströmen und das Gesumm des Anstands und des Einvernehmens senden und empfangen! Du störst, du bist
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