Angstfalle
Vorteile, stellte Kullmann zufrieden fest. Angenehme Ruhe herrschte an diesem Ort. Vom Verkehrslärm der Kaiserstraße war nichts zu hören. Die richtige Umgebung für Mutter und Kind. Außerdem wohnten Kullmann und Martha nur einen Steinwurf entfernt. Seine Pensionierung war genau zur rechten Zeit gekommen. Denn sonst hätte er viel zu wenig Zeit, sich um das Kind zu kümmern.
Am Nachmittag wollten sie Anke im Krankenhaus besuchen. Den Silvesterabend dort verbringen zu müssen, war bestimmt nicht angenehm. Deshalb wollten sie sie ein wenig ablenken. Rasch verließ er das Haus, dessen Fassade die Form von Stufen aufwies. Die Bauweise war nicht nur modern, sondern auch effektiv, überlegte Kullmann. Denn auf diese Weise wurde sie dem Berghang, der sich dahinter befand, genau angepasst.
Der Bürgersteig war wieder frei; die Temperaturen waren angestiegen, der Schnee geschmolzen. Mit schnellen Schritten lief er in Richtung Kaiserstraße, als er einen Schrei hörte. Erschrocken blieb er stehen und schaute in die Richtung, aus der er den Laut vernommen hatte. Er kam von dem Haus, in dem die Nachbarin Beatrix Reuber wohnte, deren ungewöhnliches Verhalten ihm aufgefallen war. Die Geschichte mit dem Schneemann hatte ihn zwar nicht gerade überzeugt, aber ganz vergessen hatte er die junge Frau nicht.
Im Laufschritt überquerte er die hölzerne Brücke, passierte den Autofriedhof und eilte auf das Haus zu. Die Haustür war verschlossen. Auf sein Klingeln reagierte niemand. Sollte er sich geirrt haben?
Nachdenklich stieg er den kleinen Treppenaufgang zum Hauseingang wieder hinab, als sein Blick auf den Hof fiel. Überall lagen Arme und Beine, ein Anblick, der ihn verwirrte. Neugierig geworden ging er darauf zu. Erst als er direkt davor stand, erkannte er, dass es Puppenarme und –beine waren. Er wollte aufatmen, als er die geöffnete Kellertür sah. Sofort steuerte er darauf zu.
»Frau Reuber«, rief er.
Keine Antwort.
»Hier ist Ihr Nachbar«, rief er trotzdem weiter. »Mein Name ist Kullmann! Ich komme jetzt in den Keller. Sie müssen keine Angst haben.«
Es war dunkel und feucht. Der Geruch war beißend und kam ihm bekannt vor. Er hoffte inständig, dass er sich täuschte.
Kullmann erkannte einen schwachen Lichtschein, dem er folgte.
Er täuschte sich nicht. Das war der Geruch von Blut. Eine eingeschaltete Taschenlampe lag auf dem Boden, daneben lagen zwei junge Frauen. Erst beim genauen Hinsehen erkannte Kullmann, dass eine von ihnen Beatrix Reuber war. Er fühlte ihren Puls, sie lebte. Die andere Frau kannte er nicht. Sie sah Beatrix Reuber ähnlich, aber sie gab kein Lebenszeichen mehr von sich.
Ihr war die Kehle durchgeschnitten worden.
Trixi begann zu stöhnen. Es dauerte eine Weile, bis sie zur Besinnung kam. Kullmann drehte ihren Kopf von der Toten weg.
»Wir rufen jetzt die Polizei«, erklärte er. »Am besten ist es, wir gehen nach oben!«
Auf unsicheren Beinen setzte sich Trixi in Bewegung. Kullmann stützte sie. Im Haus angekommen rannte er zum Telefon und rief seine ehemalige Abteilung an. Er erreichte Erik Tenes, der an diesem Feiertag Bereitschaftsdienst hatte. Als er ihm die Sachlage schilderte, meinte Erik: »Sie wollen mir sagen, dass Sie heute morgen zufällig über eine Leiche gestolpert sind?«
»Genau das. Da ich nicht befugt bin zu handeln, melde ich den Leichenfund. Am besten ist es, Sie schicken sofort die gesamte Tatortgruppe vor Ort und trommeln Ihre Abteilung zusammen. Das könnte für Sie die Soko Schneemann werden!«
»Sie wollen doch nicht sagen, dass die Verrückte ermordet wurde?«
»Nicht sie! Aber eine Tote liegt in ihrem Keller!«
Es dauerte nicht lange, bis die Kollegen mit mehreren Polizeiwagen eintrafen. Theo Barthels eilte allen voran zum Tatort.
»Wie kommt es, dass du eine Leiche findest?«, fragte er Kullmann. »Während deiner Dienstzeit warst du ja schon immer für Überraschungen gut. Aber dass du das nach deiner Pensionierung fortsetzen würdest?«
Dieter Forseti, sein Nachfolger betrat begleitet von Erik Tenes und Bernhard Diez das Haus. Als Kullmann Forseti gegenüberstand, fiel kein Wort der Begrüßung. Alles was Kullmann sagte, war, dass sie die Hausbesitzerin, Beatrix Reuber im Wohnzimmer finden würden. Ein Notarzt sei bestellt.
Dann verabschiedete er sich. Er hatte Besseres zu tun. Die Herzlichkeit seines Nachfolgers Forseti hatte ihm gezeigt, dass er nicht erwünscht war.
11
Forseti ging mit langsamen Schritten durch das geräumige Zimmer und
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