Angsthauch
Polly ging zur Tür, wo das Schuhregal stand, und streifte sich die Pantoffeln von den Füßen. »Kann ich die hier anziehen?« Mit dem großen Zeh stupste sie Roses Birkenstockschlappen an.
»Sicher«, erwiderte Rose. »Aber sie sind dir wahrscheinlich zu groß.«
»Der Boden ist heute Morgen noch ein bisschen kalt.«
Rose stand auf und holte erneut Wischmopp und Eimer, um Pollys Fußabdrücke zu beseitigen. Wie holt man sich dreckige Schuhe, wenn man eine Steintreppe runtergeht?, fragte sie sich. Sie kannte die Stufen. Sie hatte sie selbst gelegt, im achten Monat ihrer Schwangerschaft und im Schweiße ihres Angesichts.
»Hattet ihr einen schönen Tag gestern?«, fragte sie Polly.
»Es war super!«, antwortete Polly. »Wir haben versucht anzurufen, aber du warst nicht da.«
»Ich war bei Simon«, sagte Rose und beobachtete, ob Polly in irgendeiner Weise darauf reagieren würde. Polly jedoch ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Das war immer schon so gewesen.
»Dieser Freund von Gareth, der mit dem Studio – das ist ein echt interessanter Typ. Er hat mir ein paar von seinen Sachen vorgespielt. Er hat sogar schon mal mit PJ Harvey gearbeitet, wusstest du das?«
»Ja.«
»Meine Erzfeindin. Die Leute sagen ja, wäre sie nicht gewesen, dann wäre ich sie gewesen.« Polly kämmte sich mit den Fingern durch die Haare und verfing sich in den Knoten.
Rose setzte sich Polly gegenüber an den Tisch und nahm das größte Ei aus Annas Korb. Es war aus gelbem Stein mit bernsteinfarbenen Einschlüssen und fast zu groß, um es mit einer Hand zu greifen. Sie rollte es unter der Handfläche auf der Tischplatte hin und her.
»Weil wir denselben Namen haben und so«, meinte Polly.
»Wo ist Gareth?«, erkundigte Rose sich.
»Schläft noch, nehme ich mal an.« Polly zuckte mit den Schultern. Beide tranken schweigend. Die einzigen Geräusche waren das rhythmische »Klong-klong« von Flossie, die mit den zwei Eiern auf ihr Tischchen einschlug, und das dumpfe Grummeln des Eis, das Rose auf dem Tisch hin und her rollte.
»Können wir damit vielleicht aufhören?« Polly drehte sich um und nahm Flossie die Eier weg, die entgeistert ihre leeren Hände anstarrte, als hätte sich ihr Spielzeug einfach in Luft aufgelöst. »Das nervt«, fügte sie hinzu, als sie auch Rose ihr Ei wegnahm, alle Eier zurück in den Korb legte, auf einen Stuhl stieg und den Korb wieder oben auf die Anrichte stellte.
Dann sah sie Rose an und seufzte. »Was machen wir bloß mit dir, Rose, hm?«
Rose wand sich unter ihrem Blick.
»Weißt du was? Ich hab eine Idee«, sagte Polly schließlich. »Das heitert dich bestimmt auf.«
»Das müsste aber eine ziemlich gute Idee sein.«
»Arme Rose. Du kannst gar keinen klaren Gedanken fassen, oder? Das mit Manky hat dir wirklich das Herz zerrissen –« Rose wünschte, Polly hätte eine etwas passendere Umschreibung gewählt –, »und ich wette, Anna hat auch ganz schön dran zu knabbern. Sie ist so ein sensibles Kind, findest du nicht? Also, ich hab mir Folgendes gedacht: Heute Vormittag können wir die Beerdigung abhalten. Gareth hat schon gesagt, dass er ein Loch gräbt, und er will auch einen Grabstein aus Holz bauen. Und danach könnten wir doch zur Badestelle am Fluss fahren, was meinst du? Ein Picknick machen? Einfach mal alles andere vergessen?«
»Das klingt …« Rose hob den Blick und sah Anna, die oben an der Treppe stand, sich am Kopf kratzte und aussah wie ein verirrtes kleines Gespenst »… toll. Wirklich toll.«
»Es soll ein schöner Tag werden, sagt jedenfalls der Wetterbericht. Noch heißer als gestern. Einer von diesen verrückten Apriltagen. Oh, hi, Anna. Porridge?«
Ohne eine Antwort abzuwarten, stand Polly auf und ging in die Kammer, um die Haferflocken aus dem Regal zu holen. Anna kam die restlichen Stufen herunter, setzte sich neben Rose und vergrub das Gesicht an ihrer Schulter.
Ach, gäbe es doch niemanden außer uns, dachte Rose.
32
S päter am Vormittag hielten sie eine feierliche kleine Beerdigungszeremonie für Manky ab. Anna weinte und warf Narzissen in das Grab, das Gareth am Ende des Obstgartens ausgehoben hatte. Polly spielte auf der Gitarre und sang eine elegische Version von »Cool for Cats« mit auf Manky umgedichteten Versen.
Auf das Lied hätte Rose gut verzichten können. Sie fand es eine Spur zu ironisch für ein Ereignis, das für sie immerhin eine kleine persönliche Tragödie darstellte. Aber Anna schien es ein wenig aufzumuntern, und sie sang mit
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