Angsthauch
Wehmut in ihr geweckt hätte.
»Igitt«, rief Polly, während sie nach einem freien Platz Ausschau hielten. »Leute.«
Es war in der Tat brechend voll. Fast die gesamte Wiese war in der Hand von Familien, die auf buntgemusterten mexikanischen Decken saßen, ihre bleichen englischen Beine in die Sonne streckten und sich das mitgebrachte Essen schmecken ließen. Gespräche erfüllten die Luft, ihre Themen der Inbegriff des Bürgerlichen: Die Männer redeten darüber, dass man sich an diesem Tag ein bisschen so fühle wie in der Toskana, während die Mütter nach ihren Kindern riefen.
»Leo!«
»Anastasia, Schätzchen, komm her!«
»Los, wir gehen da rüber.« Die Kinder murrten, als Polly sie zu einer freien Stelle führte, die weit weg von den übrigen Badegästen am oberen Ende der leicht ansteigenden Wiese lag, mehr als fünfzig Meter vom Flussufer entfernt. Rose hätte sich den Platz niemals ausgesucht. Es war eine völlig unpraktische Wahl, wie sie nur jemand treffen konnte , der sich keinen Deut dafür interessierte, ob seine Kinder schwammen oder ertranken.
Die Hitze machte Rose zu schaffen. Ihr ganzer Körper war feucht, bestimmt sah man den Schweiß durch den Stoff ihres Kleides. Und sie hatte Bauchschmerzen, das unverwechselbare heiße Ziehen, das den Beginn einer Periode ankündigte. Sie hatte irgendwann einmal gehört, wie jemand den Schmerz als Wurm beschrieben hatte, der sich langsam durch einen hindurchfrisst. Genauso fühlte es sich an.
Polly breitete die Decke aus, und die Kinder zogen sich die Badesachen an. Im Gegensatz zu Yannis, der sich unbekümmert auszog, zeigten Nico und Anna mehr Schamgefühl und verbargen ihre nackten Körper umständlich hinter Handtüchern oder, in Annas Fall, unter Roses langem Frotteebademantel.
»Können wir jetzt reingehen?«, fragte Anna und schwang sich einen Schwimmreifen auf die Schulter.
»Ja, aber geht nicht übers Wehr«, mahnte Rose. »Das gilt auch für euch zwei«, fügte sie an Nico und Yannis gewandt hinzu.
»Meinst du?« Polly sah sie an. »Sie sind ziemlich gute Schwimmer.«
»Es gibt eine Strömung«, erklärte Rose und blickte zum Fluss hinüber, der nach den jüngsten Regenfällen angeschwollen war. Streng genommen war es ihr egal, was die Jungs taten, aber sie wollte nicht, dass Anna es ihnen nachmachte.
»Och, Mann …«, jammerte Nico im Versuch, die Aufmerksamkeit seiner Mutter zu erregen. Aber die war bereits zu sehr damit beschäftigt, ihren knappen Bikini anzulegen, als dass sie ihm Beachtung geschenkt hätte.
»Wie wäre es damit: Bis zum Mittagessen bleibt ihr vorn im flachen Teil, und wenn Flossie dann schläft, schwimme ich mit euch rüber auf die andere Seite«, schlug Rose vor.
Nico, dem klarwurde, dass er sich nichts Besseres würde herausschlagen können, hob zustimmend die Schultern, bevor er sich umdrehte und vor den anderen den Abhang hinunter zum Fluss rannte.
»Willst du dich nicht umziehen?«, fragte Polly, die sich in ihrem stilechten Fünfziger-Jahre-Bikini auf der Decke niederließ. Rose erschrak beim Anblick ihres unbekleideten Körpers. Er war fast vollständig mit feinem dunklem Haarflaum bedeckt. Knochen und Sehnen traten hervor, wie bei einem dreidimensionalen anatomischen Schaubild. Neben den Tätowierungen war auf Pollys Haut noch eine ganz andere Geschichte zu lesen: Eine Schraffur dünner Schnitte überzog Schenkel und Arme. Einige von ihnen waren alt und vernarbt, aber auf anderen sah man noch den Wundschorf, sie mussten also relativ frisch sein. An mehreren Körperstellen waren darüber hinaus kleinere Blutergüsse sichtbar, vor allem auf der Innenseite der Schenkel und über der Brust. Fingerspuren.
Wie schrecklich, dachte Rose, und ein kleiner Teil des harten Klumpens, der sich in den letzten Tagen in ihr gebildet hatte, löste sich auf bei dem Gedanken daran, was Polly sich angetan hatte. Es war ihre Pflicht, nett zu ihr zu sein, so wie Gareth. Und das war bestimmt auch alles, was er wollte: ein bisschen nett sein zu Polly.
»Ich warte noch. Ich muss erst Flossie stillen«, sagte Rose und nahm ihre Tochter aus der Babyschale.
Polly rieb Sonnencreme in die pergamentene Haut ihrer Beine, dann stand sie auf und streckte sich. Trotz ihrer Blässe, der hervorstehenden Knochen und der Narben sahen die Leute zur ihr herüber – vielleicht auch gerade deswegen. Aber es lag auch an Pollys Glamour. Die Leute fragten sich unwillkürlich, ob sie ein Star war. Und das war sie ja auch – zumindest war sie
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