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Angsthauch

Angsthauch

Titel: Angsthauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Crouch
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durch die Küche zu Polly, die sie an einem Büschel ihrer langen dunklen Haare herumriss.
    »Was hat er getan?«, fragte sie und sah Polly aus nächster Nähe ins Gesicht. Polly strahlte eine beinahe verträumte Ruhe aus, eine Aura stillen Triumphs umgab sie.
    »Was hat er getan? Wo ist Flossie?« Rose spürte schlaffe Haut und Muskeln unter den Fingern, als sie Polly bei den Schultern packte. Bei dem Gefühl, wie sich Pollys Fleisch über ihren Knochen bewegte, musste Rose an das Paar Rebhühner denken, das sie im vergangenen Herbst gerupft und ausgenommen hatte. Wäre Polly ein Vogel gewesen, hätte sie ihr mit Leichtigkeit die Federn ausreißen können. Sie hätte sie gepackt und sie ihr aus der pickligen Haut gerissen, sie hoch in die Luft geschleudert und zugesehen, wie sie zur Erde segelten, als wären sie eine Handvoll Fünfzig-Pfund-Scheine.
    Polly hielt Roses Blick stand und löste sich sanft aus ihrem Griff. »Sie schläft. Hinter dir«, sagte sie und zeigte mit der Hand.
    Rose wirbelte herum. Flossie lag auf ihrem Lammfell, die Arme nach beiden Seiten hin ausgestreckt. Mit angehaltenem Atem beobachtete Rose den Brustkorb ihrer Tochter. Ja, vorn unter dem Stoff ihres sauberen, frischen Stramplers konnte sie eine leichte Auf-und-ab-Bewegung erkennen. Wie um dies zu bestätigen, stieß Flossie einen kleinen Seufzer aus, der fast wie ein Keuchen klang, zuckte kurz mit den Armen und glitt mit dem nächsten Ausatmen zurück in die Tiefen des Schlafs.
    Aufgewühlt wandte sich Rose wieder der Szene auf dem Rasen zu. Sie drängte sich an Polly vorbei zur Hintertür hinaus. Die Steine waren kalt unter ihren nackten Fußsohlen, aber sie merkte es kaum. Gareth hielt etwas mit einer Hand fest, während er mit der anderen, in der er ein Messer hatte, darauf einhackte. Anna hatte sich an seinem Rücken festgekrallt, allerdings nicht im Spiel, wie sie es vor unzähligen Jahrhunderten in der Burgruine getan hatte, sondern um ihn von seinem Tun abzuhalten. Man sah jede Menge Rot, das gegen das glitzernde Smaragdgrün des Rasens noch leuchtender ins Auge stach.
    Rose lief durchs taufeuchte Gras und spürte, wie die kalte Nässe den Saum ihres Nachthemds hinaufkroch, das an ihrem verletzten Schienbein klebte. Es schien Jahre zu dauern, bis sie die beiden erreicht hatte – wie in einem Traum, in dem man rennt und rennt und dabei doch nicht vorwärtskommt. Aber irgendwann hatte sie es geschafft.
    Sie drehte sich um und warf einen Blick zurück zum Haus. Polly hatte wieder ihren Beobachtungsposten im Türrahmen eingenommen. Als Rose ihren Gesichtsausdruck sah, wäre sie um ein Haar gestolpert. Darin lag mehr als bloße Zufriedenheit. Polly war berauscht von Besitzerstolz.
    »Da!«, hörte sie Gareth rufen, als er aufstand und den Fuchsschwanz in der blutigen Faust emporhielt. Anna war von seinem Rücken gerutscht und hatte sich abgewandt. Sie weinte, das Gesicht in den Händen vergraben. Gareths Miene war fast dieselbe wie Pollys, und Rose wurde zu ihrem Entsetzen klar, dass sein Blick direkt an ihr vorbei zur Hintertür ging. Es war, als wäre sie unsichtbar geworden, als hätte sie sich in nichts aufgelöst. Plötzlich begann der Rasen zu kippen und mit dem Himmel zu verschmelzen. Rose fiel hin und drückte dankbar das Gesicht ins nasse Gras. Das Letzte, was sie wahrnahm, war Anna, die über sie gebeugt dastand und ihr mit ihrem einen gesunden Auge ins Gesicht starrte.
    »Mum?«, fragte sie. Dann löste sie sich in Nebel auf.
    *
    Als Rose aufwachte, lag sie in ihrem Bett. Anna, Nico und Yannis saßen im Schneidersitz auf dem Boden und spielten Karten. Flossie lag neben Anna in ihrer Babyschale und sah den Kindern mit ausdrucksloser Miene zu. An ihrem Kinn lief ein kleines Rinnsal Speichel herunter.
    »Hi«, sagte Rose.
    »Mum!« Anna kam auf allen vieren zum Bett gekrochen und musterte sie. »Alle sind krank. Wir wissen nicht, was wir machen sollen.«
    »Was?«
    »Mum und Gareth«, sagte Nico. »Die haben irgendwas mit dem Magen. Sie haben sich beide hingelegt.«
    Rose schluckte. Ihr Mund war trocken, und in ihrer Kehle rasselte es.
    »Dad liegt bei mir im Zimmer und Polly im Nebengebäude. Sie sind beide ganz schlimm krank, was sollen wir denn jetzt machen?« Anna stand auf, setzte sich aufs Bett und nahm Flossie auf den Schoß. »Wir warten schon seit Ewigkeiten, dass du wach wirst.«
    Der Kaffee, dachte Rose. Da ist er also, der Beweis. Dann fiel ihr der Blick zwischen Polly und Gareth wieder ein, und sie erschauerte.

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