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Angsthauch

Angsthauch

Titel: Angsthauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Crouch
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brauchst bestimmt Geld, oder?«
    »Ja.« Polly hielt die Hand auf. Rose gab ihr zehn Pfund. Sie hatte sich damit abgefunden, dass diese Reise sie in mehr als einer Hinsicht teuer zu stehen kommen würde. Polly, Nico, Yannis und das gesamte Gepäck verschwanden im Taxi. Rose und Anna blieben auf dem Gehweg zurück und winkten ihnen, als sie losfuhren. Um zu Lucys Haus zu gelangen, das nur ungefähr eine Meile entfernt auf dem Hügel lag, hätte Rose nach Verlassen des Bahnhofs eigentlich links abbiegen müssen, aber sie hatte entschieden, dass sie eine kurze Atempause brauchte, also lenkte sie den Buggy stattdessen die North Street hinunter in Richtung Meer, das wie eine riesige graue Decke zwischen den Häusern hing.
    »Komm, Anna. Jetzt zeige ich dir einige der besten Clubs im ganzen Universum.«
    »Was denn für Clubs?«, fragte Anna, die sich am Bügel des Buggys festhielt, als sie den Hügel hinunterliefen.
    »Clubs für große Mädchen. Clubs zum Tanzen und Trinken und Spaßhaben.«
    »Klingt super«, meinte Anna. »Bis auf das mit dem Trinken.«
    Rose fühlte sich verwegen. Sie empfand keinerlei Verpflichtung gegenüber Polly oder gegenüber dieser Lucy aus ihrer Vergangenheit. Dieses eine Mal würde sie tun, was sie wollte, und sich nicht um andere kümmern. Sie gingen durch ein Gewimmel von Menschen: blasse Mädchen mit Nasenpiercings, die ihre weichen Bäuche ungeschützt der meereskalten Brise aussetzten; Verkäufer von Obdachlosenmagazinen mit ihren räudigen Hunden, denen aus dem Weg zu gehen Rose längst verlernt hatte; Frauen mit Buggys wie Roses, die mit weggetretenen Mienen vor dem Schaufenster von Waterstones standen, als wäre der ganze lange Tag mit Kind schneller vorbei, wenn sie Bücher anstarrten, für deren Lektüre sie früher einmal Zeit gehabt hatten.
    Brighton war nicht mehr die Stadt, in der Rose aufgewachsen war. Aus einem leicht heruntergekommenen zwielichtigen Provinznest war eine leicht heruntergekommene weltoffene Großstadt geworden. Rose fragte sich, ob diese Homogenisierung erst kürzlich stattgefunden hatte und wie weit sie ging. Sie fühlte sich hilflos und unglaublich alt, als sie sich dem Meer näherten und zur Rechten am Churchill Square die nichtssagende Ziegel- und Pastellfassade eines frisch renovierten Shoppingcenters aufragte. Zu ihrer Zeit war es noch ein urinverseuchtes, düsteres Ungetüm aus Beton gewesen.
    »So viele Vögel!«, rief Anna.
    »Das sind Möwen. Die sind gewissermaßen wie Ratten mit Flügeln.«
    Anna ließ sich das durch den Kopf gehen. »Aber ohne die ekligen Schwänze«, sagte sie.
    »Stimmt. Aber sie fressen absolut alles. Und sie greifen auch Menschen an. Ich habe mal gelesen, dass in Rottingdean ein Mann von einer Möwe getötet wurde.«
    Anna schaute sie mit großen Augen an, und Rose verpasste sich im Geiste eine Kopfnuss. Was war in sie gefahren, ihrer sensiblen Tochter solche Schauergeschichten zu erzählen? Sie hatte sich zu sehr an das dicke Fell der Jungen gewöhnt. »Aber der war schon alt und krank. Dass sie ein Mädchen oder seine Mutter getötet hätten, ist noch nie vorgekommen.«
    »Noch nie?«
    »Noch nie.«
    Sie gingen weiter bis zum Wasser, und Rose traute ihren Augen nicht. Wo sich früher schäbige Clubs unter verfallene Fischerbögen geduckt hatten, wo es verwinkelte Kneipen und stinkende kleine Mauernischen gegeben hatte, waren jetzt Kaffeehäuser mit Terrassen, die bis auf den Kiesstrand hinausgingen. Wunderschöne Bodenfliesen aus Glas wiesen den Weg die neue, geschwungene Promenade aus Granitpflaster entlang. Es gab Duschen, einen Kajakverleih, sogar hier und da eine Skulptur. Alles sah vollkommen unenglisch aus. Mit seinem Glanz des Neuen, dem geschäftigen Treiben und den bunten Farbtupfern, die sich vor dem kreidegrauen Himmel abzeichneten, war der Anblick fast eine Beleidigung für ihre jüngst entwickelte ländliche Empfindsamkeit.
    Anna jedoch gefiel es, und sogar Flossie ließ sich kurzzeitig von einem Ständer mit Plastikwindrädern in den Bann ziehen, der neben einer mannshohen Eiswaffel aus Fiberglas aufgestellt war.
    »Lass uns was trinken gehen«, schlug Rose vor. Sie setzten sich draußen vor eine Bar, deren Terrasse auf einer gepflasterten Halbinsel lag, die bis zu einer großen steinernen Buhne auf den Strand hinausragte. Rose fragte sich, was im Winter aus der Bar wurde, wenn die Stürme die Kiesel vom Strand bis auf die Promenade hochschleuderten. Bestimmt mussten sie jedes Frühjahr renovieren. Oder

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