Angsthauch
Rose hob abwehrend die Hände und weigerte sich standhaft, auch nur ein Wort zu sagen.
»Das werdet ihr am Wochenende alles selbst rausfinden«, versprach sie und las ihnen noch ein Kapitel aus Pu der Bär vor, in dem Pu mit einem Ballon fliegt und in einem Baum hängenbleibt.
Dann ließ sie sich am Küchentisch nieder und trank eine ganze Flasche Champagner aus Gareths Spezialvorrat. Sie fand, dass der Tag gefeiert werden musste. Warm schmeckte der Champagner scheußlich, aber das erschien ihr umso angemessener.
43
A ls Rose am nächsten Morgen nach unten kam, wäre sie vor Schreck beinahe umgefallen. Polly war bereits wach und saß am Tisch. Sie war angezogen wie eine Punkversion von Celia Johnson in Begegnung . Auf den Knien hielt sie eine winzige Handtasche; ein kleiner Koffer, den Rose noch nie zuvor gesehen hatte, stand neben ihr.
»Guten Morgen!«, rief Polly mit einem Strahlen. »Ich hab den Kater gefüttert. Er war am Verhungern, der arme kleine Kerl.«
Verkatert, noch ungewaschen und im Nachthemd, fühlte sich Rose weitaus weniger munter. Sie brummte nur und setzte Flossie in ihren Hochstuhl. Dann brach ein Höllenlärm los, als Nico, Yannis und Anna einer Stampede gleich die Treppe heruntergetrampelt kamen.
»Kommen wir zu spät?«, fragten sie.
»Kommt das Taxi auch pünktlich?«
Nico und Yannis richteten sämtliche Fragen an Rose. Dass ihre Mutter, um deren Gesundheit sie tags zuvor noch gebangt hatten, quicklebendig in der Küche saß, schienen sie gar nicht zu bemerken.
»Ruhig jetzt, wir wollen Gareth nicht aufwecken«, sagte Rose. »Es ist erst kurz nach sechs.«
Als sie alle gewaschen und angezogen waren und gefrühstückt hatten, schleppten sie ihr Gepäck die Stufen zur Straße hoch, um auf den Minivan zu warten, den der Ehemann der Dorfladenbesitzerin fuhr und der im Ort als Taxi diente. Rose hatte ihn gebeten, nicht wie sonst in der Einfahrt zu parken und zu hupen. Sie hatte Gareth eine kurze, sachliche Nachricht hinterlassen, in der sie ihn bat, die Katz e zu füttern. Wo sie absteigen würden, hatte sie ihm vorsichtshalber verschwiegen. Darüber hinaus hatte sie Polly auch noch das Handy aus der Handtasche genommen, während diese im Bad gewesen war. Sie hatte es ausgeschaltet, es – nur um ganz sicherzugehen – unter den laufenden Wasserhahn gehalten und es dann ganz hinten in einer Anrichte versteckt.
Es war ein nebliger Morgen – so neblig, dass man kaum die Hand vor Augen sehen konnte. Rose hoffte, dass sich das Problem auf die nähere Umgebung beschränkte – sie wohnten in einer leichten Senke –, sonst würden sie womöglich den Zug verpassen, und dann säße sie wirklich in der Tinte.
Sie standen auf einem Fleckchen Gras an der Straße und warteten. Die Kinder zupften lange Grashalme ab, taten so, als würden sie Zigaretten rauchen, und bliesen Atemwolken in die feuchte Luft. Flossie saß zufrieden in ihrem geländegängigen Buggy wie ein schlafender Buddha. Hier draußen im kalten Morgen wirkte Pollys Vierziger-Jahre-Aufzug lächerlich, fand Rose. Außerdem war nicht zu übersehen, dass die frühe Stunde, die Kälte sowie die Tatsache, dass sie für jemanden ohne körpereigene Isolation eindeutig zu dünn angezogen war, Polly erheblich zu schaffen machten.
»Schaut mal!«, rief Anna und zeigte auf ein Spinnennetz, das wie ein Lüster mit strassglitzernden Tauperlen behängt war. Nico holte mit seiner Grashalmzigarette aus und brachte die kunstvolle Konstruktion in einem lautlosen Tropfenschauer zum Einsturz. Anna klatschte lachend in die Hände. Noch vor wenigen Monaten wäre sie den Tränen nahe gewesen. Rose fragte sich, woran es lag, dass ihre Tochter diese Härte entwickelt hatte und ob es eine gute oder eine schlechte Entwicklung war.
Zum Glück kam das Taxi pünktlich, und Roses Angst in Bezug auf den Nebel erwies sich als unbegründet. Sobald sie auf der Hauptstraße waren, ging es problemlos voran, so dass sie fünf Minuten vor Abfahrt des Zugs am Bahnhof ankamen. Selbst das Einsteigen verlief trotz des vielen Gepäcks und der Kinder reibungslos, dank der Hilfe zweier überschäumend gutgelaunter älterer Bahnhofsmitarbeiter, die darauf bestanden, die Koffer zu tragen, »während die Damen sich ein nettes Plätzchen für sich und die Kleinen« suchten. Es gab sogar ein Imbisswägelchen, das von einer rotwangigen jungen Polin durch den Zug geschoben wur de. Kaum hatten sie sich auf ihren reservierten Plätzen niedergelassen, kam sie vorbei und bot
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