Angsthauch
ihnen Tee, Kaffee, heiße Schokolade und frische gezuckerte Donuts für die Kinder an. Rose zahlte.
»Ich geb’s dir wieder. Ich warte immer noch darauf, dass sich die griechischen Anwälte melden. Die brauchen Ewigkeiten – aber im Laufe der nächsten Woche müsste es so weit sein«, versicherte Polly.
Erst jetzt wurde Rose klar, dass Polly möglicherweise überhaupt nichts auf der Reise aus eigener Tasche würde bezahlen können. Vermutlich hatte sie sich bislang über finanzielle Dinge nie Gedanken machen müssen, weshalb ihr jetzt gar nicht in den Sinn kam, dass ein Mangel an Geld sie von irgendetwas abhalten könnte.
»Wie geht’s dir denn heute Morgen?«, erkundigte sich Rose.
»Ach, na ja. Geht schon«, antwortete Polly.
»Wenigstens musstest du nicht eine Woche im Krankenhaus liegen.«
Polly sah sie scharf an, aber Rose hatte sich abgewandt und schaute aus dem Fenster.
»Seht mal«, sagte sie zu den Kindern. Ein breiter Strom schlängelte sich durch eine saftig grüne Wiese. »Das Wasser kommt von unserem Fluss.« Der Fluss hinter ihrem Haus. Der Fluss, von dem Gareth vor langer Zeit einmal gesagt hatte, er wolle seinen Verlauf mit Holzschnitten dokumentieren.
Nebel hing über dem Wasser und quoll über die Ufer hinweg ins Gras.
»Es sieht fast so aus, als säßen wir in einem Flugzeug und würden von oben auf die Wolken runterschauen«, meinte sie.
Polly lehnte den Kopf gegen die Scheibe und machte es sich zum Schlafen bequem. Rose tippte ihr aufs Knie.
»Soll ich die Tickets nehmen? Falls du schläfst, wenn der Schaffner kommt.«
Polly langte in ihre kleine Handtasche und reichte ihr den Umschlag mit den Fahrkarten.
Gemächlich ratterten sie durch die West Country. Der Zug hielt an jedem Bahnhof. Polly war schon bald tief und fest eingeschlafen, aber für Rose war an Ausruhen nicht zu denken, weil sie alle Hände voll damit zu tun hatte, die Kinder zu bändigen. Die Jungs fingen wie üblich ständig Streit miteinander an, aber neu war, dass nun auch Anna mitmischte und ebenso großzügig austeilte, wie sie einsteckte. Rose versuchte, sie zur Ruhe zu ermahnen, aber die Fahrt war lang, und die Kinder waren aufgeregt. Mehrere Fahrgäste in der Nähe standen stillschweigend von ihren Plätzen auf und setzten sich woandershin. Ein oder zwei brachten ihr Missfallen auch deutlicher zum Ausdruck. Kaum eine Stunde nach Fahrtantritt hatte sich eine Bannmeile um sie gebildet.
Als sie Hampshire erreichten, wurde Polly wach, borgte sich zehn Pfund von Rose und ging schwankenden Schrittes durch den ruckelnden Wagen davon, um die Polin mit ihrem Imbisswägelchen zu suchen. Als sie zurückkam, hatte sie mehrere Chipstüten für die Kinder und einen Becher Kaffee für sich selbst dabei.
»Du wolltest ja nichts, oder?«, fragte sie Rose.
»Nein, mir geht’s gut«, antwortete diese.
»Können wir uns da rübersetzen?«, fragte Anna und zeigte auf einen leeren Tisch einige Meter weit weg.
»Wenn ihr euch benehmt, von mir aus«, war Rose einverstanden, dann fügte sie, um die Bedenken der Mitreisenden zu zerstreuen, lauter hinzu: »Aber ich hole euch zurück, sobald ich irgendwas höre, was mir nicht gefällt.«
Sie saß da und musterte Polly, die Frau, die früher einmal ihre Freundin gewesen war. Sie fragte sich, ob es zwischen ihnen immer schon so schwierig gewesen war, unter der Oberfläche ihrer gemeinsamen Geschichte und der Gewohnheit, einander als beste Freundinnen zu bezeichnen. Oder war es wie eine lange Ehe, in der das, was als Liebe begonnen hatte, auf beiden Seiten zu unterschwelligem Hass geworden war? Trotz ihrer Zerbrechlichkeit und ihrer Kleinmädchen-Aura hatte Pollys Charakter einige sehr hässliche Seiten. Rose wurde klar, dass sie Polly auf die eine oder andere Weise vermutlich schon immer gehasst hatte. Nicht erst jetzt, da sie Rose auf geradezu teuflische Weise den Mann gestohlen hatte, sondern von Anfang an – als Objekt ihrer Eifersucht und Spiegel ihrer eigenen Unzulänglichkeit.
»Wie sehen denn nun deine Pläne aus, Poll?«, platzte sie heraus. Der Zug fuhr an einem Hafen irgendwo in der Nähe von Southampton vorbei. Es herrschte Ebbe, und kleine Boote lagen einsam und verlassen auf einer schlammbedeckten Fläche.
»Das schon wieder«, sagte Polly, schob die rot geschmink-te Unterlippe vor und sah aus dem Fenster.
»Ich würde es einfach gern wissen. Gareth und ich –«
»Was ist mit Gareth und dir?« Polly warf ihr einen Blick zu.
»Vielleicht wird es langsam Zeit,
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