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Angsthauch

Angsthauch

Titel: Angsthauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Crouch
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Für Rose gab es kein Spielzeug, keine Urlaubsreisen, keine neuen Kleider und keine Geburtstagspartys.
    All das trug natürlich nicht gerade dazu bei, ihr gesellschaftliches Ansehen zu heben.
    Ihr einziger Trost war das Essen, dem sie sich hingab wie einem Liebhaber. So kam zu der Unbeholfenheit, den seltsamen Kleidern und dem Körpergeruch auch noch das Übergewicht hinzu. Erst als sie vom Essen auf Männer umstieg, fing sie an abzunehmen und bekam ihr Leben allmählich in den Griff.
    Dementsprechend war es kein Wunder, dass sie, als sie an jenem Schulmorgen von den Wellen durchnässt in der Klasse gesessen hatte und Polly so freundlich zu ihr gewesen war, diese Freundlichkeit mit beiden Händen ergriffen und sie fest an ihr Herz gedrückt hatte. Rückblickend kam es ihr so vor, als hätte sie die ganzen Jahre hindurch nie etwas anderes getan. Vielleicht, dachte sie, während sie den Buggy um einen von Möwen zerpickten schwarzen Müllsack herumlenkte, der seinen schleimigen Inhalt aufs Pflaster ergoss, vielleicht muss jetzt mal Schluss sein mit der Dankbarkeit.
    »Das ist es«, sagte sie zu Anna, als sie vor dem hohen, schmalen Haus stehen blieben, in dem sie aufgewachsen war. Es sah viel kleiner aus, als sie es in Erinnerung hatte. Vielleicht war sie mittlerweile einfach an größere Häuser gewöhnt, so wie ihr eigenes.
    »Schick«, meinte Anna.
    »Es ist renoviert worden«, erklärte Rose und spähte über den Zaun hinweg auf das Haus, das vorn einen kleinen tiefergelegenen Hof voller schattenliebender Pflanzen hatte. Wie der Rest von Brighton auch hatte ihr altes Elternhaus einen Glanz bekommen, den es zu Roses Zeiten nie gehabt hatte. Es war strahlend weiß, mit Verzierungen in glänzendem schwarzem Lack. Früher war die Farbe von den Fen s terrahmen geblättert, und sie waren so verrottet gewesen, dass die Scheiben in ihnen gewackelt hatten. Inzwischen waren überall neue doppelt verglaste Schiebefenster eingebaut worden. Jetzt zieht es bestimmt nicht mehr, dachte Rose. Und statt der leicht stockigen Netzgardinen von früher schirmten nun moderne Jalousien das Innere vor neugierigen Blicken ab. Alles wirkte sehr edel, aber zugleich auch abweisend. Wie jemand, der die Augen geschlossen hat.
    Früher war alles braun gewesen. Rose erinnerte sich an das Zimmer unterm Dach, wo der Schnurrbartmann während seiner regelmäßigen Brighton-Aufenthalte gewohnt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie sie sich auf die grobgewebte Tagesdecke gelegt und die Beine gespreizt hatte, während er am Reißverschluss seiner Terylenhose nestelte. Sie erinnerte sich an seinen »Freund«, der ihn manchmal begleitet hatte, und wie sie sich mit ihr abgewechselt hatten, über sie gelacht und sie auf die jungen, kleinen Brüste geschlagen hatte.
    »Sag deinem Daddy aber nichts davon, in Ordnung, Rose?«
    »Das ist unser kleines Geheimnis, was, Kindchen?«
    Und Polly hatte sie immer aufgestachelt, sie dazu animiert, es noch weiter zu treiben, noch schamloser zu flirten, unter dem Rock ihrer Schuluniform noch ein bisschen mehr Haut hervorblitzen zu lassen. Alles zur Freude der zahlenden Gäste.
    »Aber schau mal, wie nah am Meer du gewohnt hast«, sagte Anna und blickte verträumt zum Horizont, der am Ende der Straße zu sehen war. Die Sonne hatte ihren Kampf gegen das Grau gewonnen, und jetzt spiegelte die See das Kreideblau des Himmels, das Rose noch nie irgendwo anders gesehen hatte als hier an dieser Küste. »Du hattest es so gut, Mum. Ich würde auch gern am Meer wohnen.«
    »Von wem ist es?«, hatte ihr Vater an jenem Tag in der Stube gebrüllt, sie an den Haaren gezerrt und die Faust gehoben.
    Rose hatte es beim besten Willen nicht gewusst. Und das hatte sie ihm auch gesagt.
    »Schlampe!«, hatte er geschrien. »Isabel!«
    Es war großes Glück gewesen, dass Polly ihn aufgehalten hatte. Anderenfalls hätte er sie ohne Zweifel umgebracht, seine eigene Tochter.
    »Aber du hast es doch auch gut, Anna«, meinte Rose. »Du hast die Wiesen und die Felder. Ist das nicht schön genug für dich?«
    »Doch, klar ist das schön«, sagte Anna, ein wenig erstaunt über den Tonfall ihrer Mutter. »Aber das Meer gefällt mir auch.«
    »Komisch. Als ich hier gewohnt habe, wollte ich immer auf dem Land leben«, erklärte Rose. Sie musste fort von hier. »Komm, die anderen wundern sich bestimmt schon, wo wir abgeblieben sind.«
    Sie gingen weiter den Hügel hinauf zum Queen’s Park, wo Rose eine Pause einlegte, um Flossie zu wickeln. Anna erkundete

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