Angsthauch
vielleicht waren die Winter hier im Süden, wie so vieles andere, auch nicht mehr das, was sie einmal gewesen waren.
Der Nachmittag war vorangeschritten. Die Sonne gab sich alle Mühe, den grauen Wolkenschleier zu verdunsten, der über allem lag, dennoch spürten Anna und Rose die Kälte des Meeres in der Luft, während sie im Freien auf ihre Getränke warteten. Schließlich wurde ihre Bestellung gebracht. Rose hatte sich für ein großes Glas Shiraz entschieden, Anna für eine heiße Schokolade mit Sahne und Schokostreuseln, von der sie behauptete, dass sie nicht so gut sei wie die, die sie seinerzeit in Heathrow getrunken hatte, als sie auf die Ankunft von Polly und den Jungs gewartet hatten.
Nachdem sie ausgetrunken hatten, zahlte Rose, und sie gingen weiter zum Pier. Dieser wenigstens schien unverändert und erinnerte eher an das alte Brighton. Hier war alles ein bisschen greller, ein bisschen bunter und kitschiger. Die Menschen, die sich am Eingang drängten, waren tätowiert, mit Goldkettchen behängt und auf die Art von Unterhaltung aus, wie man sie nur in Brighton finden konnte. Rose ging mit den Mädchen bis ganz ans äußerste Ende, vorbei an den blinkenden, heulenden Fahrgeschäften, dem hypnotischen Basspuls blecherner Chartmusik und dem köstlichen Duft frisch frittierter Donuts. Sie gingen immer weiter, ließen die phallisch aufragende Spiralrutsche hinter sich, die kreischenden Autoscooterfahrer und schließlich eine beängstigende Vorrichtung, die versprach, ihre Insassen mehrere hundert Meter tief in die brodelnde See zu katapultieren.
»Schau mal. Man kann sehen, wie das Meer unter uns schäumt«, sagte Rose zu Anna. Sie blickten durch die Ritzen zwischen den Holzbohlen nach unten. »Man meint, man stünde auf festem Boden, aber das stimmt nicht. Jede Sekunde kann das alles in sich zusammenstürzen, und dann liegt man im Wasser.«
Ganz kurz hatte sie das Gefühl, dort unten ihren eigenen Geist sehen zu können, der unter irgendeinem Jungen lag, während sich dessen pickliger Hintern im Rhythmus seiner Stöße auf- und abbewegte. Sie schauderte.
»Ich will zurück«, sagte Anna.
»Hab keine Angst, der Pier steht schon seit hundert Jahren.«
»Aber was ist mit dem da?« Anna deutete über das aufgewühlte Meer zum West Pier hinüber, der erst den Stürmen, dann einer Brandstiftung zum Opfer gefallen war. Er war ein trauriger Anblick, fand Rose. Ein Gerippe, das einst eine stolze Königin gewesen war und nun, nackt und jeder Würde enthoben, allmählich ins Nichtsein zurückkehrte.
»Ach, das ist ein sehr alter Pier«, erklärte sie. »Fast so alt wie die Dinosaurier. Bis dieser hier in sich zusammenfällt, müssen noch Ewigkeiten vergehen.« Rose erinnerte sich an den West Pier, als er zwar bereits geschlossen, aber noch mehr oder weniger intakt gewesen war – an die wunderschönen Tanzsäle mit ihren Kuppeldächern, die sich über dem Kies erhoben und sie anzustacheln schienen, wenn sie wieder einmal zur Sperrstunde mit einem Jungen im Schlepptau aus dem Club gestolpert kam und den Strand hinunterlief, um ganz weit unten, dort, wo das Meer am Land leckte, flüchtigen und unbeholfenen Sex zu haben. Plötzlich kam es ihr falsch vor, mit ihren unverdorbenen Töchtern hier zu stehen.
»Na komm, Anna Banana, dann gehen wir. Willst du jetzt das Haus sehen, in dem ich als Kind gewohnt habe?«
Sie kehrten an Land zurück und machten einen Bogen am Sea Life Centre vorbei den Hügel hinauf. Es war Roses alter Schulweg, nur in umgekehrter Richtung, und mit jedem Schritt wuchs ihre Angst davor, ihr altes Zuhause wiederzusehen.
Rückblickend betrachtet, hatte sie eine schreckliche Kindheit gehabt. Sie musste ein Unfall gewesen sein wie Flossie, aber anders als diese hatte sie keinen Elternteil gehabt, der sich für sie eingesetzt hätte. Ihre vorherrschende Erinnerung war, dass sie immer im Weg gestanden hatte – ein Störfaktor, der den Betrieb der Pension aufhielt. Wenn sie den Mund hielt und sich möglichst wenig blicken ließ, waren ihre Eltern zufrieden. Wenn nicht, dann ließ sich vor allem ihr Vater zu gewalttätigen Zornesausbrüchen hinreißen.
Da sie eine Meisterin darin war, sich unsichtbar zu machen, hatte Rose, als sie schließlich in die Schule kam, nicht gewusst, wie man Freunde fand. Dazu kam, dass ihre Eltern geradezu krankhaft sparsam waren. Sämtliche ihrer Sachen stammten aus Gebrauchtkleiderläden, und sie durfte nur einmal pro Woche baden, in zwölf Zentimeter tiefem Wasser.
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