Angsthauch
gestorben.
Wäre ich nur mit Andy zusammen weggegangen, dachte Rose plötzlich und presste sich die Faust gegen die Brust. Dann wäre das alles nicht passiert. Sicher, es hätte Probleme gegeben, aber niemals wäre es zu einer solchen Katastrophe gekommen wie die, die ihr jetzt bevorstand.
Also würde sie genau das tun: Gleich morgen würde sie die Mädchen nehmen und mit ihnen in die Bretagne reisen, wo sie zusammen mit Andy in seinem Häuschen auf einem von Salzschorf bedeckten Steilhang mit Blick über den wilden Atlantik leben würden. Sie würde auf einem mit Napfschnecken überkrusteten Felsen stehen und das Ozon einatmen, das bestimmt ganz anders roch als die schwere Luft des Ärmelkanals, die sie aus Brighton kannte.
Dort, weit weg von Gareths Missgunst und Verbitterung, würde sie endlich ihre Geheimnisse loslassen können und zum allerersten Mal ein vollkommen freies und aufrichtiges Leben führen. Sie würde für Frank da sein und für ihr Enkelkind. Sie würde Abbitte leisten.
Sie versuchte, ihre Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen, indem sie praktische Überlegungen anstellte: Würden sie die Fähre nehmen oder fliegen? Wo bekam sie ein Auto her? Und würde sie Flossie, die keinen Reisepass besaß, zwischen dem Gepäck versteckt außer Landes schmuggeln können? Währenddessen ging sie zurück in die Küchennische des großen Zimmers. Sie wirkte ganz anders als früher, als sie noch ihr Reich gewesen war. Damals hatten immer abgewaschene Töpfe neben der Spüle gestanden oder Schüsseln mit Bohnen zum Einweichen; Berge erdverkrusteter Kartoffeln aus dem eigenen Garten hatten auf die Weiterverarbeitung gewartet. Jetzt jedoch deutete nichts darauf hin, dass hier jemals gekocht oder gegessen worden war. Stattdessen lehnte eine Gitarre am Gasherd, und der Küchentisch war übersät mit gelben Blättern. Jedes Blatt war Zeile für Zeile beschrieben, in Pollys kleiner, fahriger Handschrift mit ihren wahllos platzierten Großbuchstaben, verspielten Schnörkeln, dem übertrieben kursiven Schriftbild und unzähligen Ausstreichungen.
Pollys Songs.
Rose nahm eins der oberen Blätter in die Hand, hielt es ins Licht und las:
You say you can’t hurt her
You can: I want you too much
Her clouds close over us
We’ll drown in black clouds
You have to bring down the storm
Na also. Das hatte nichts mit dem Witwen-Zyklus zu tun, von dem Polly die ganze Zeit über geredet hatte. Rose las den Text ein zweites Mal, dann nahm sie das Blatt und riss es in winzige Fetzen, die sie in die Luft warf und dabei beobachtete, wie sie zu Boden trudelten. Sie nahm ein weiteres Blatt, dann noch eins, bis das Zimmer mit Schnipseln bedeckt war wie mit pissgelbem Schnee. Sie hoffte, dass eine Technikverächterin wie Polly nicht irgendwo noch Kopien aufbewahrte. Sie lachte. War das etwa die einzige Waffe, die ihr geblieben war: die Fähigkeit, alles in Stücke zu reißen? Und machte sie nicht weidlich von ihr Gebrauch?
Aber was spielte das überhaupt noch für eine Rolle? Morgen wären sie und ihre Töchter auf dem Weg nach Frankreich. Sie trat nach den gelben Schnipseln und wirbelte sie auf.
»Hallo?«
Es war eine Männerstimme. Sie kam vom Fuß der Treppe. Rose machte buchstäblich vor Schreck einen Satz. Eine Sekunde lang schien alles in Zeitlupe abzulaufen, wie in einem Kung-Fu-Film. Sie konnte die Luft pfeifen hören, als sie sich umdrehte und das Licht ausknipste. Sie hatte die Hände erhoben und war auf alles gefasst.
»Ist da jemand?«
Ein Schatten kroch langsam die Wand über der Treppe hoch. Anhand des Umrisses konnte Rose erkennen, dass der Mann eine Art Knüppel in der Hand hielt. Möglicherweise einen Hammer.
Sie zog sich bis zum Küchenschrank zurück, griff nach einer Bratpfanne und holte damit beidhändig über die rechte Schulter aus, als wäre sie ein Kricketschläger.
»Rose?«
Rose sog scharf die Luft ein und ließ die Pfanne zu Boden poltern. Simon. Ihr guter, alter Freund. Ihr Kumpel.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte er. »Ich habe das Licht gesehen, und ich wusste ja, dass ihr weg seid, und der Wagen steht nicht da, deswegen bin ich rübergekommen, um nach dem Rechten zu schauen.«
Rose rannte zu Simon und schlang ihm die Arme um den Hals. Sie weinte vor Erleichterung. »Ich habe gedacht, du wärst –«
»Schhh, schhh …«
»Ich dachte … Es ist alles zu Ende, Simon«, schluchzte sie.
Simon hielt sie lange im Arm und streichelte ihr Haar, während sie in seine Brust weinte. Er wartete, bis
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