Angsthauch
vergewissern, dass sich dort nichts verbarg. Abgesehen von dem Chaos in der Küche, war alles wie immer.
»Kommt, ich bringe euch ins Bett, Fräulein eins und Fräulein zwei«, sagte sie zu Anna und Flossie. Sie ging mit ihnen nach oben, schaltete auch hier alle Lampen ein und hielt die freie Hand vor sich ausgestreckt, als trüge sie darin einen unsichtbaren Schild. Sie brachte die beiden nach oben ins Elternschlafzimmer, das noch genauso aussah, wie sie es zurückgelassen hatte. Das Bett war nur flüchtig gemacht worden, ihr Kimono hing noch über der Stuhllehne. Sie deckte Anna zu, dann wechselte sie rasch Flossies Windel, legte sie neben Anna ins Bett und steckte ein paar Kissen um sie herum, damit sie nicht herausfallen konnte. Als Flossie ihr Fläschchen mit Folgemilch bekommen hatte, die Rose in einem Tetra Pak in der Wickeltasche aufbewahrte, war Anna bereits wieder eingeschlafen und schnarchte leise. Ihr gesundes Auge war geschlossen, doch das Pflaster schien Rose vorwurfsvoll anzustarren.
Rose warf einen Blick in jedes Zimmer. Sie machte Licht, sah unter den Betten und in den Kleiderschränken nach. Sie wusste nicht genau, was sie damit bezweckte, aber sie würde kein Risiko eingehen. Inzwischen war alles glasklar. Sie war die ganze Zeit über viel zu vertrauensselig gewesen. Sie musste sichergehen, dass Gareth keinen Hinterhalt für sie gelegt hatte.
Doch wie sich herausstellte, war das einzige Problem, das er ihr hinterlassen hatte, die Küche. Und das war nur gerecht, fand Rose, wenn man bedachte, wie sie in seinem Atelier gewütet hatte.
Sie ging zurück nach unten und nahm einen Regenschirm aus dem Ständer neben der Garderobe. Sie schaltete das Außenlicht ein und ging vorsichtig zum Nebengebäude. Sie öffnete die Tür und stieß sie dann mit ausgestrecktem Arm ganz auf – eine Geste, die ihr sofort darauf albern vorkam, wie aus einem James-Bond-Film.
Sie knipste das Flurlicht an, spähte die Treppe hinauf und lauschte auf ein Geräusch oder eine Bewegung. Dann ging sie, den Regenschirm wie ein gezücktes Schwert vor dem Körper, langsam die Treppe hoch, bis sie im Wohn-SchlafZimmer angelangt war. Sie war lange nicht hier gewesen – zumindest nicht, ohne dass Polly dabei jede ihrer Bewegungen beobachtet hätte.
Sie betätigte den Lichtschalter an der Wand, und die Deckenlampe ging an. Dass Polly hier wohnte, war nicht zu übersehen. Überall lagen ihre Sachen herum. Schwarze Spinnennetzkleider, BHs – die nach Roses Erachten bei Pollys winzigen Brüstchen vollkommen überflüssig waren – und Unmengen schmutziger Höschen. Rose ging in die Knie und schaute unter das Bett. Sie streckte den Arm so weit, dass sie sich fast die Schulter ausrenkte, und angelte eine ihr bekannte Männerunterhose darunter hervor. Sie lag mit dem lodengrünen Pullover zusammengeknüllt, den Rose nur allzu gut kannte.
»Siehst du, jetzt bin ich eine richtige Ehefrau«, hatte sie gesagt, als sie Gareth den Pullover überreicht hatte, nachdem sie drei Monate lang jeden Abend vor dem Fernseher daran gearbeitet und das Strickstück dabei auf dem Bauch abgelegt hatte, der einmal Anna werden würde.
Am Kopfteil des Betts waren Lederriemen befestigt, und als Rose einen Blick in die Schublade des Nachtschränkchens warf, fand sie darin Antibabypillen, zwei Vibratoren – einen großen und einen kleinen rosafarbenen, der ganz weich war –, eine Tube Gleitgel mit Erdbeergeschmack und eine Analkette, die, wie Rose sofort bemerkte, oft benutzt worden war.
Das Bad sah so aus, wie sie erwartet hatte – ein wüstes Durcheinander von Kosmetika für Haare, Haut, Gesicht und Körper. Die Instandhaltung von Pollys abgerissenem, zerzaustem Look erforderte hinter den Kulissen offenbar eine Menge Arbeit. Rose sah ihren Touche Éclat zwischen einem Tiegel Eve-Lom-Reinigungsemulsion und einem Eyeliner von Nars hervorblitzen. Sie überlegte kurz, ob sie ihn wieder an sich nehmen sollte, entschied sich dann aber dagegen – wahrscheinlich war er bereits kontaminiert. Der Mülleimer quoll über vor blutverschmierten Taschentüchern, und die Toilette musste einmal gründlich gespült werden.
Rose ging weiter in den kleinen Vorraum, den sie nach wie vor als Andys Zimmer betrachtete. Er lag leer und traurig da. Von den Jungs gab es darin keine Spur mehr, schließlich hatte Rose selbst für ihren Umzug ins Haupthaus gesorgt. Die Matratzen des Doppelstockbetts waren abgezogen, es herrschte eine Atmosphäre, als wäre jemand
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