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Angsthauch

Angsthauch

Titel: Angsthauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Crouch
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menschlicher Wärme war, das ihr auf längere Zeit zuteil werden würde. Trotzdem wollte sie, dass es vorbei war und er endlich verschwand.
    Er ging schwankend die Stufen hoch, wie ein Mann, der alles gesehen hatte, dann war er weg. Die Nacht war im Rückzug begriffen, die Vögel stimmten schon ihr Morgenkonzert an. Rose stellte fest, dass es aufgehört hatte zu regnen und dass die Luft jetzt klarer war.
    Sie spürte das Wundsein um die Lippen und zwischen den Beinen, als sie sich nach oben schleppte und zwischen ihre Töchter kroch. Sie glitt in einen tiefen und dunklen Schlaf, der wie von Gift durchzogen schien. Man hatte ihr alles nur Denkbare angetan, und nichts davon hatte sie verdient.
    So fest war ihr Schlaf, dass sie nicht einmal das Telefon hörte, das insgesamt fünfmal klingelte.

46
    A m nächsten Morgen wachte Flossie erst um neun Uhr auf. Rose war benommen und verkatert, sie wälzte sich auf die Seite, zog die Bluse hoch und schob ihr die Brustwarze in den Mund. Flossie begann sofort zu saugen, und es dauerte nicht lange, bis der Milchfluss einsetzte. Rose war überrascht, dass ihr Körper dazu überhaupt noch in der Lage war.
    Im Licht der Morgensonne, die bis in den hintersten Winkel der Dachschräge schien und alles golden hervortreten ließ, sah das Schlafzimmer wunderschön aus. Hier war es warm und sicher. Während sie mit ihren Töchtern im Bett lag, empfand Rose eine gewisse Erleichterung darüber, dass sich die Situation so zugespitzt hatte. Sie hatte das Gefühl, dass an diesem Tag alles möglich wäre. Ihr alter Optimismus hatte sie doch nicht im Stich gelassen. Im Grunde freute sie sich sogar auf die bevorstehenden Veränderungen. Sie dachte an Frank und an die Freundlichkeit, die sie in seinen Augen gesehen hatte.
    Während Flossie trank und die Brust mit ihren kleinen Händchen bearbeitete, fiel Roses Blick auf den Kalender, der auf ihrem Nachttisch stand. Sie hatte ihn kurz nach dem Einzug dort aufgestellt, um einen Überblick über sämtliche anstehenden Aktivitäten zu haben. Mit seiner Hilfe, hatte sie gedacht, würde sie gleich nach dem Aufwachen wissen, ob sie Anna Schwimmsachen in die Schule mitgeben, Lebensmittelspenden fürs Erntedankfest zusammensuchen oder Geld für einen Schulausflug bereitlegen musste. Allerdings hatte es nie richtig funktioniert. Sie hatte den Kalender nur sporadisch aktualisiert, und für die letzten zwei Monate gab es gar keine Eintragungen mehr. Als sie ihn jetzt betrachtete, stellte sie fest, dass der Erste Mai war. Für sie war das immer schon ein ganz besonderer Tag gewesen, weil er einen Neuanfang symbolisierte.
    »Anna, wach auf!« Sie stupste das schlafende Kind sachte an. »Komm, wir müssen rausgehen und unser Gesicht mit Tau waschen.«
    Anna war verschlafen, wusste aber sofort, wovon ihre Mutter sprach. Das Taubad war ein alljährlich wiederkehrendes Ritual. So kam es, dass sie wenige Minuten später auf dem Rasen hinter dem Haus knieten und sich Tau ins Gesicht rieben, während Flossie neben ihnen auf einer Decke lag.
    »Froh und glücklich wollen wir sein den ganzen Tag!«, sang Anna und sah lächelnd zu ihrer Mutter.
    »Das wegen gestern Nacht tut mir leid, Schatz. Ich war einfach nur müde.«
    »Schon gut. Hauptsache, es kommt nicht wieder vor«, sagte Anna.
    Rose nahm sie in den Arm, und sie standen fest umschlungen in der Mitte des regennassen Rasens, während Flossie versuchte, ein Gänseblümchen zu essen.
    Als sie wieder im Haus waren, ließ Rose sich ein heißes Bad ein, dem sie eine verschwenderische Menge Aveda-Badezusatz beimischte. Sie lag im Wasser und nahm eine Handvoll Schaum in den Mund, der knisternd auf ihrer Zunge zerging. Einzelne Partien ihres Körpers ragten aus den Schaumwolken hervor, und sie sah welke, unebenmäßige Haut, die rein gar nichts mit der Rose zu tun zu haben schien, die jetzt in ihrem Kopf wohnte.
    Zum Frühstück machte sie den Mädchen French Toast mit Ahornsirup, dann brachte sie den aufgeweichten Rucksack von draußen herein. Mit Anna zusammen sortierte sie die nassen Sachen und breitete sie neben dem ebenfalls feuchten Buggy auf den Steinstufen aus, damit sie in der Sonne trocknen konnten. Es war schön, gemeinsam an etwas zu arbeiten. Es gab Rose Hoffnung für die Zukunft.
    Sobald alles trocken war, würden sie es wieder einpacken und sich auf den Weg machen.
    Doch unter ihrer ruhigen Oberfläche spürte Rose immer wieder eine zuckende Angst, ein Gefühl wie Hunger, das ihre Eingeweide packte und

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