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Angsthauch

Angsthauch

Titel: Angsthauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Crouch
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es nicht in Ordnung, sagte aber nichts. »So viel Züchtigkeit sieht dir gar nicht ähnlich.« Sie zwang sich zu einem Lächeln.
    »Na ja, du weißt ja, wir sind hier auf dem Land. Man muss sich den Gebräuchen anpassen.« Polly benutzte Gareths hölzernen Spatel, um den Milchschaum aus der Kanne auf ihren Kaffee zu löffeln.
    Was für Nachbarn?, dachte Rose. Weder Haus noch Garten konnte von irgendjemandem eingesehen werden. Aus genau dem Grund waren sie schließlich hergezogen.
    »Schmeckt dir der Kuchen?«, erkundigte sich Polly. »Anna hat stundenlang gewerkelt.«
    »Er ist wunderschön«, sagte Rose.
    »Und die Weidenkätzchen! Es hat so viel Spaß gemacht, sie am Fluss zu pflücken. Fühl mal.« Sie brachte ein Glas zu Rose, damit diese sie berühren konnte. Schweigend strichen sie beide über die samtigen Knospen.
    »Tut mir leid, Rose«, sagte Polly. »Der Kimono. Flossie. Alles.«
    »Hast du schon wieder vergessen, was wir übers Entschuldigen gesagt haben?« Rose lächelte und legte ihre Hand auf Pollys.
    Sie saßen da und tranken. Ein Sonnenstrahl durchbrach den morgendlichen Himmel, fiel zum Fenster herein und erhellte sie wie ein Verfolger die zwei Hauptfiguren in einem Theaterstück.

22
    E r wäre sonst gestorben, aber jetzt wird er wieder gesund, oder?«, fragte Anna und sah zu Rose auf. Ihre großen braunen Augen waren voller Sorge.
    »Ich glaube, du hast ihn gerettet«, meinte Rose und legte den Arm um ihre Tochter. Es war Nachmittag, und Rose hatte Anna und die Jungs gerade von der Schule abgeholt.
    »Er hat hinten im Garten im Gras gelegen, und er hat so ausgesehen.« Anna schielte und streckte die Zunge aus dem Mundwinkel.
    »Er ist bestimmt aus dem Nest gefallen.«
    »Oder ein anderer böser Vogel hat ihn rausgeschubst«, meinte Anna. »Ich hab ihn aufgehoben – aber nicht so, dass er meinen Geruch abbekommt –, und da hab ich gesehen, dass er noch am Leben ist, also hab ich ihn mit reingenommen und in den Karton getan. Ich füttere ihn fünfmal am Tag mit kleingeschnittenen Würmern.«
    »Igitt.«
    »Mir macht das nichts aus. Er heißt Jason.«
    Rose betrachtete das winzige Vögelchen in seinem Nest aus Watte, das Anna in den Wäschetrockenschrank gestellt hatte. Sie rechnete ihm keine großen Überlebenschancen aus, aber Annas Optimismus gefiel ihr.
    »Jason wird denken, dass du eine richtige Heldin bist, Anna«, sagte sie. »Wenn er durchkommt.«
    »Das tut er garantiert«, war Anna überzeugt.
    »Hast du Lust auf einen Spaziergang runter zum Fluss?«, fragte Rose. »Bevor ich losfahre?«
    Es war kurz vor vier, und sie musste allmählich zurück ins Krankenhaus. Nachdem Polly wieder im Nebengebäude verschwunden war, hatte Rose einen erholsamen Nachmittag in der Küche verbracht, und jetzt stand ein Auflauf im Ofen, eine Pastete im Kühlschrank, und in ihrem Herzen war ein Stück weit Friede eingekehrt. Aber Gareth würde sich fragen, wo sie blieb, wenn sie sich nicht bald auf den Weg machte.
    »Na, dann komm!«, rief Anna und zog ihre Mutter an der Hand hinter sich her.
    Sie gingen über die Wiese zu Gareths Weide. Es tat gut, an der frischen Luft zu sein.
    »Komm rein«, forderte Rose sie auf und bog die Weidenzweige auseinander. Anna folgte ihr und setzte sich auf den glatten Stein.
    »Wie kommst du denn mit alldem klar?«, wollte Rose wissen.
    »Es geht Flossie ja bald besser, und dann wird alles so wie vorher, oder?«, fragte Anna, während sie eine Handvoll Erde aufhob und sie durch die Finger rieseln ließ. »Aber ich vermiss dich. Und Flossie.«
    »Ich vermisse dich auch«, sagte Rose und gab ihr einen Kuss. »Und du hast recht. Wir sind bald wieder da.«
    »Gut«, sagte Anna und ballte die Fäuste.
    »Was ist denn?«
    »Ach, nichts.«
    »Du hast doch was. Erzähl’s mir«, bat Rose.
    »Na ja …«
    »Ja?«
    »Es ist wegen der Jungs«, meinte Anna. »Eigentlich sind sie ja ganz in Ordnung. Wir spielen ja auch oft zusammen. Ich hab Yannis echt gern.«
    »Und Nico?«
    »Geht so.«
    »Geht so?«
    Anna schwieg, den Blick fest auf einen Strudel im Wasser gerichtet, der an der Weide vorbeifloss. In ihren Augen muss er sehr groß aussehen, dachte Rose. Groß genug, um sie fortzureißen.
    »Es ist nur – manchmal ist er so gemein, Mummy. Nicht nur zu Yannis. Zu mir auch, obwohl ich ihm gar nichts getan hab. Als wäre ein wütender Hund in ihm drin oder so, der unbedingt rauswill.«
    »Hat er dir weh getan, Anna?«
    »Nein, nein. Ich hab bloß ein bisschen Angst. Manchmal glaub ich, er

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