Angsthauch
könnte mir weh tun, wenn er noch ein bisschen gemeiner wird. Und …« Ihre Stimme verklang. Sie zog eine Haarsträhne zwischen ihren Lippen hindurch.
»Was denn, Schatz?«
»Ich will dich haben, nicht Polly.«
Rose spürte das Blut in ihren Wangen prickeln.
»Ich komme so schnell nach Hause, wie es geht, Anna. Versprochen.«
Arm in Arm gingen sie zurück zum Haus, und Anna durfte im Auto mit nach Bath fahren. Als sie im Krankenhaus ankamen, schlief Gareth mit Flossie auf seiner Brust.
Anna und Rose lächelten sich an. Es sah aus, als wäre er beim Stillen eingeschlafen. Sie gaben ein lustiges Bild ab: das kleine Baby in den Armen eines Mannes, wie es seinen großen Finger in der Faust hielt.
Als sie näher kamen, wurde Gareth wach. Er sah auf. »Ihr geht es wieder richtig gut, Rose. Richtig gut.«
Rose schickte Anna los, damit sie vom Stand der ehrenamtlichen Helfer ein paar Schokoriegel holte. Sobald sie weg war, wandte sie sich an Gareth.
»Anna hat Probleme mit Nico«, sagte sie. »Sie hat gesagt, er sei immer so wütend. Er macht ihr Angst.«
»In den letzten Tagen war er definitiv nicht wie sonst«, räumte Gareth ein. »Aber dass es so schlimm ist, wusste ich nicht.«
»Sie hat es mir gesagt, Gareth.«
»Natürlich. Sie wird deswegen ja wohl nicht lügen.«
»Nein.«
»Pass auf – ich behalte die Situation im Auge. Ich lasse nicht zu, dass er Anna Angst macht. Auf keinen Fall.«
»Aber das hat er doch schon.«
»Wenn es so schlimm wäre, dann wäre sie doch damit zu mir gekommen.«
»Vielleicht hat sie sich nicht getraut«, vermutete Rose. »Vielleicht –«, aber sie musste aufhören, denn Anna kam mit fünf Tafeln Galaxy-Schokolade in der Hand auf sie zugehüpft.
»Für Polly hab ich keine, die isst ja keine Schokolade«, sagte sie. »Aber da ist eine für dich und eine für dich und eine für mich und eine für Yannis und eine für Nico.«
»Ich glaube nicht, dass wir uns um unsere Anna allzu viele Sorgen machen müssen«, raunte Gareth Rose zu.
Aber weißt du denn nicht, wie tapfer sie ist?, dachte Rose.
23
A m darauffolgenden Donnerstag verkündeten die Ärzte, dass Flossie nach Hause dürfe. Sie würde alle sechs Monate zur Langzeitüberwachung wiederkommen müssen, aber sie hatte an Gewicht zugelegt, ihre Körpertemperatur war normal, und sie hatte sämtliche Reaktionstests bestanden. Zwischenzeitlich war sie auch von der Intensivstation auf die normale Kinderstation verlegt worden, wo die meisten kleinen Patienten entweder Asthma hatten oder an den Mandeln operiert worden waren. Flossies unmittelbarer Bettnachbar, ein vierjähriger Junge, hatte ein gebrochenes Bein. Er lag in seiner Extensionsvorrichtung und zappelte wie ein Fisch am Angelhaken.
»Es ist wirklich erstaunlich«, meinte Kate, als sie ihnen am letzten Abend einen Besuch abstattete, »wie zäh gesunde Babys sind. Was auch immer ihnen passiert, sie klammern sich mit aller Kraft ans Leben. Als ob sie unbedingt wissen wollen, was sie noch alles erwartet.«
»Wenn sie nur wüssten …« Rose lag auf dem Bett und schaukelte Flossie auf den Knien. Sie drehte sich zu Kate um und sah ihr in die Augen.
»Kann ich dich was fragen?«
»Na klar.«
»Ich will eine ehrliche Antwort haben. Findest du nicht, dass Flossie ein bisschen … verloren aussieht? So hinter den Augen, meine ich?«
Kate nahm Flossies Gesicht in beide Hände und betrachtete sie lange.
»Sie hat viel durchgemacht, Rose, und jede Menge Medikamente bekommen. Es ist ein bisschen, als ob sie einen schweren Kater hätte. Ich weiß ja nicht, ob du dich noch aus deiner Jugend daran erinnerst, wie es einem dabei geht, aber ich sage dir, das würde den stärksten Mann umhauen.«
»Hmmm …«
»Ehrlich. Ein Organismus braucht lange, lange Zeit, um sich von so einem massiven Schock zu erholen. Es ist noch viel zu früh, um zu sagen, ob sich irgendwelche dauerhaften Veränderungen ergeben haben.«
»Warum klingt das für mich so gar nicht ermutigend?«
»Hör zu, du musst vor allem eins tun: nicht nach Anzeichen einer Schädigung suchen, sondern nach Anzeichen von Verbesserung.«
Rose nahm sich vor, es zu versuchen.
*
Gareth holte Flossie und Rose ab, und zu dritt machten sie sich auf den Weg durch die vom Feierabendverkehr verstopfte Stadt. Von da aus ging es auf die vielbefahrene A 36 und schließlich weiter über die Landstraße. An den Bäumen, die die Fahrbahn säumten, zeigten sich schon die ersten Blättchen. Es tat unsagbar gut, endlich dem
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