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Angsthauch

Angsthauch

Titel: Angsthauch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Crouch
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natürlicher Entwicklung.
    Für Rose war das eine zutiefst unbefriedigende Situation. Sie wollte empirische Fakten, die sie so sehr schätzte. Die Ungewissheit brachte das Fundament ihrer Welt ins Wanken. Eine Welt, die einst so voller Verheißung gewesen war und in der jetzt nichts mehr sicher zu sein schien.

21
    A m nächsten Tag fuhr Rose wie geplant nach Hause, während Gareth bei Flossie blieb. Kaum war sie daheim angekommen, wünschte sie sich, sie wäre in der Klinik geblieben. Anna und die Jungs waren in der Schule, und Polly lag wahrscheinlich noch im Bett. Sie war ganz allein.
    Die Küche glich einem Schlachtfeld. Auf dem Tisch stand ein Kuchen, von dem ein Stück fehlte. Er war nicht abgedeckt. Darum herum lag ein Durcheinander aus Mehltüten, schmutzigen Rührschüsseln, Eierschalen und benutzten Tassen. Es sah aus, als hätte der Kuchen sich selbst gebacken. Der Fußboden war übersät mit Gemüseschalen und Mehl. Marmeladengläser mit Osterglocken und Weidenkätzchen standen auf jeder freien Fläche, das Wasser in ihnen trübe und abgestanden. Es war die Art Wasser, von dem man genau weiß, dass es nach Tod riecht. Ein Wäschekorb stand in der Mitte der Küche auf dem Boden, voll mit zerknitterter, feuchter Wäsche, von der ein stockiger Geruch ausging. Rose schaffte die ganze Ladung in die Kammer und stellte erneut die Maschine an.
    Dann ging sie nach oben. Kein einziges Bett war gemacht, nicht einmal ihr Ehebett. Niedergeschlagen warf sie sich auf die zerwühlten Laken. All das hätte ihr vollkommen egal sein sollen, war es aber nicht. Sie war nicht mal eine Woche weg, und schon sah alles anders aus, roch anders, fühlte sich anders an. Das konnte doch unmöglich so schnell von ganz allein passiert sein – ohne dass jemand nachgeholfen hatte?
    Sie verscheuchte den Gedanken. Sie war müde, und alles war so seltsam. Die Augen fielen ihr zu, und sie döste ein. Zweimal fuhr sie aus dem Schlaf hoch, weil sie dachte, Flossies Apparate hätten aufgehört zu piepsen, und jedes Mal dauerte es eine Weile, bis sie begriffen hatte, wo sie war und wieso sie auf eine weiße Wand starrte statt auf einen grauen Vorhang.
    Als sie schließlich endgültig wach wurde, lag sie mit dem Gesicht tief ins Kopfkissen gedrückt in einer Lache ihres eigenen Speichels. Sie blieb ganz ruhig liegen, während ihre Augen langsam die weiße Kissenhülle fokussierten. Sie nahmen einen Gegenstand wahr, der dort nicht hingehörte: ein einzelnes langes, dunkles Haar, genau neben ihrer Wange. Ihr Gehirn holte ihren Sehsinn ein, und ihr wurde klar, was sie da anstarrte. Sie setzte sich auf und untersuchte das Haar, indem sie es neben ihr eigenes hielt, das kürzer und mausbraun war. Es gab keinen Zweifel, wem dieses fremde Haar gehörte: Polly.
    Pollys Kopf hatte auf ihrem Kissen gelegen.
    »Mach dich nicht lächerlich, Rose«, hörte sie sich selbst in die Stille des Zimmers hinein sagen. Polly musste hier im Bett gesessen und den Kindern vorgelesen haben. Bestimmt hatte Anna sie für eine Gutenachtgeschichte mit nach oben geschleppt. Rose musste sich sehr anstrengen, um vor ihrem geistigen Auge ein Bild von Polly heraufzubeschwören, wie sie, von Kindern umringt, aus einem Buch vorlas. Und selbst wenn sie sich dazu durchringen konnte, es zu glauben – ertragen konnte sie es deshalb noch lange nicht. Denn das wäre ja, als wäre Polly jetzt Rose – ein Gedanke, vor dem es Rose beinahe ekelte. Ein Geruch stieg ihr in die Nase; es war derselbe wie damals, als der Einbrecher auf den Küchenfußboden ihrer Wohnung in Hackney geschissen hatte.
    Rose schlug die Bettdecke zurück und inspizierte gründlich den Rest des Betts. Sie entdeckte ein Schamhaar auf Gareths Seite – sein eigenes, wie sie nach eingehender Betrachtung erleichtert feststellte. Ansonsten fand sie nichts bis auf einen schwarzen Fleck. Irgendwann war sie einmal im leicht angeheiterten Zustand beim Schreiben des Einkaufszettels eingeschlafen, und der Kugelschreiber war auf dem Laken ausgelaufen. Sie hatte den Fleck nie herausbekommen.
    Als Nächstes kniete sich Rose auf die Matratze und drückte das Gesicht hinein. Sie kroch vor und zurück und schnüffelte wie ein neugieriger Hund am Hintern einer Hündin. Sie war sich ganz sicher, dass sie einen Hauch von Polly riechen konnte. Aber sie hatte ja bereits das Haar als Beweisstück. Wenn Polly wirklich in ihrem Bett gewesen war – und daran bestand kein Zweifel –, dann war es nur logisch, dass es auch nach ihr

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