Angsthauch
Klo geschmissen?«, fragte Rose verwirrt.
»Jason«, schluchzte Anna. »Sie hat ihn einfach ins Klo geschmissen. Ich wollte Pipi machen, und da lag er.«
Das Rauschen der Spülung ließ Rose und Anna entsetzt aufblicken. Polly wischte sich die Hände ab und kam aus dem Bad, gefolgt von Nico und Yannis, die nach dem Nervenkitzel noch ganz große Augen hatten und sich die Hände vor den Mund hielten.
»Was denn? Er war tot«, erwiderte Polly und sah Anna und Rose an.
Anna schluchzte auf. »Ich konnte ihn nicht retten, Mum!«
»Sie hat das Gefühl, sie ist schuld dran, dass er gestorben ist«, erklärte Polly Rose mit einem Lächeln.
Rose strich Anna übers Haar. »Ach, Schätzchen, er war noch so klein. Es ist so gut wie unmöglich, einen aus dem Nest gefallenen Babyvogel durchzubringen.«
»Das hab ich ihr auch gesagt«, warf Polly ein.
»Aber es ging ihm doch schon wieder gut …« Erneut brach Anna in Tränen aus, und Rose hielt sie fest in den Armen.
»Es war ein bisschen unsensibel, ihn einfach so wegzuspülen«, meinte sie an Polly gewandt. »Ich glaube, wir hätten ihn gern beerdigt.«
»Ach, du meine Güte«, knurrte Polly und machte sich auf den Weg nach unten.
»Wo ist eigentlich Daddy?«, wollte Rose von Anna wissen.
Polly drehte sich auf der Treppe um. »Der ist vor etwa einer Stunde ins Atelier gegangen«, sagte sie. »Ich soll dir von ihm einen guten Morgen wünschen.«
*
Rose sagte, sie würde die Kinder zur Schule bringen, und als sie Flossie endlich angezogen und ins Tuch gesetzt hatte, waren sie bereits sehr spät dran.
»Ist ja nicht das erste Mal«, meinte Yannis, als Rose mit ihnen im Eilmarsch über die Wiese lief. »Manchmal sind wir erst um zehn da gewesen.«
»Jetzt wird alles anders«, erklärte Rose. »Heute ist das letzte Mal, dass ihr zu spät kommt.«
Die zwei Jungs rannten über die Wiese und von Baum zu Baum, aber Anna wich Rose nicht von der Seite.
»Jason ging es wirklich schon viel besser, Mum. Gestern hat er ganz viele Würmer gegessen.«
»Das ist der Lauf der Natur.« Rose drückte die Hand ihrer Tochter. »Es ist brutal, ich weiß. Aber vielleicht hätte er ohnehin nicht überlebt.«
»Aber wie ist dann das mit seinem Hals passiert?«, murmelte Anna.
»Was?«
»Der war so.« Anna legte den Kopf schief. »Als ob er gebrochen wäre.«
»Vielleicht hat er versucht aufzustehen und ist hingefallen«, sagte Rose, die eine andere Möglichkeit gar nicht erst in Betracht ziehen wollte. Ihr war nicht entgangen, was für eine Faszination der Vogel auf Nico ausgeübt hatte. Bei einem Besuch im Krankenhaus hatte er ihr sogar erklärt, dass er ihn mit in die Schule nehmen wolle, um ihn seiner Klassenlehrerin zu zeigen. Anna hatte »Nein!« geschrien und war auf ihn losgegangen wie eine wilde Löwin.
Rose ging mit hinein, um die Kinder in die Liste der Zuspätkommer einzutragen. Die Jungs stürmten zu ihren jeweiligen Klassenräumen davon, aber Anna zögerte.
»Ich will nicht in die Schule«, flüsterte sie. »Ich will zu Hause bleiben, bei dir und Flossie.«
»Du weißt, dass das nicht geht«, sagte Rose und nahm sie in den Arm. »Du musst tapfer sein und zur Schule gehen und lernen. Wenn du zu Hause bist, denkst du nur den ganzen Tag an Jason.«
»Muss ich?«
»Ja, du musst. Und jetzt lauf, sonst verpasst du auch noch den Rest der Stunde.«
Anna drückte Rose ein letztes Mal, dann straffte sie die Schultern und marschierte durch den Korridor davon. Sie schaute sich nur einmal um.
»Rose. Und Flossie! Willkommen zurück.« Janet steckte den Kopf zur Tür ihres Büros heraus. »Habt ihr einen Augenblick Zeit?«
Rose betrat das Büro der Schulleiterin und ließ sich in einem Sessel in der Ecke nieder. Janet nahm neben ihr Platz.
»Wie geht es unserer Kleinen?«, wollte sie wissen und strich Flossie über den Kopf.
»Wieder besser. Obwohl sie uns einen gehörigen Schrecken eingejagt hat.«
»Ich habe schon davon gehört. Ich freue mich so, dass ihr beide wieder zu Hause seid. Ich wollte nur kurz mit dir sprechen. Weißt du, während du nicht da warst, sind die Dinge hier etwas … aus dem Ruder gelaufen. Die Jungs sind ein bisschen – verwildert ist das einzige Wort, das mir dazu einfällt. Vor allem Nico macht mir Sorgen. Es gab Prügeleien. Und sie sind fast jeden Tag zu spät gekommen.«
»Hast du schon mit Polly darüber gesprochen?«
»Ich habe sie nie gesehen. Ich habe versucht, bei euch zu Hause anzurufen, aber es ist niemand rangegangen.«
»Aber du
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