Angsthauch
können. Anna ging so liebevoll mit ihrer Schwester um. Sie half dabei, ihr die Haare zu waschen, und wischte ihr mit einem Frotteelappen das Wasser aus dem Gesicht.
Als beide ihre Schlafanzüge anhatten, gingen sie zu dritt nach oben ins Schlafzimmer, machten es sich auf dem Bett gemütlich und lasen Pu der Bär . Das Buch war einer der wenigen Gegenstände, die Rose aus ihrer Kindheit aufbewahrt hatte. Auf das Vorsatzblatt hatte sie an die hundertmal ihren Namen gekritzelt – Autogrammübungen für später, wenn sie berühmt wäre. Daran erinnerte sie sich noch genau.
Anna liebte Pu der Bär . Eng an Rose geschmiegt, lachte sie über Pus Missgeschicke. Flossie ringelte sich auf Roses Schoß zusammen und lutschte am Daumen. Als Anna ihr die Bilder zeigte, reagierte sie nicht.
Irgendwann war das Buch zu Ende. Rose legte Flossie in ihr Bettchen, das Gareth auf ihre Bitte hin ins Elternschlafzimmer gestellt hatte. Dann ging sie mit Anna einen Stock tiefer, wo sie sich zusammen auf Annas rosafarbenem Prinzessinnenbett kuschelten. Annas Gesicht lag ganz nah an ihrem. Lange schwieg sie, als überlege sie, wie sie es am besten sagen sollte.
»Komisch, dass sie heute Abend alle wieder nach drüben gezogen sind«, meinte sie schließlich.
»Was?«, fragte Rose. Sie war schon fast eingeschlafen.
»Ins Nebengebäude.«
»Na ja, Polly hat es vorgeschlagen, damit wir ungestört sind und wieder ein bisschen zueinanderfinden können. Das war sehr nett von ihr, und sie hat absolut recht.«
»Ich finde die Familie so besser«, sagte Anna.
»Was meinst du damit?«, fragte Rose, die ihr mit halbgeschlossenen Augen die Wange streichelte.
»Nur du, ich, Floss und Dad«, flüsterte Anna.
»Hm«, murmelte Rose.
»Nicht ich, Nico, Yannis, Polly und Dad.«
Rose fuhr zusammen. Es war wie eine der Zuckungen, die einen urplötzlich aus dem Halbschlaf reißt, als würde man aus sich selbst herausgerissen.
»So wird es auch nie wieder sein«, versprach sie. »Jetzt sind wir wieder zusammen.«
*
Sie rief ein »Gute Nacht« die Treppe hinunter, dann ging sie ins Schlafzimmer. Dort sah sie noch ein letztes Mal nach Flossie, bevor sie ins Bett kroch. Gareth kam kurze Zeit später. Er legte sich neben sie, beugte sich zu ihr, gab ihr einen Kuss und war sofort eingeschlafen. Nach nahezu zwei Wochen der Trennung schliefen sie nicht miteinander. Das war ungewöhnlich genug, um eine gewisse Besorgnis in Rose zu wecken. Sie hätte die Hand ausstrecken und ihn an sich ziehen können, aber eigentlich war ihr nicht danach zumute. Dass Flossie bei ihnen im Zimmer schlief, machte es auch nicht gerade besser.
Rücken an Rücken schliefen sie ein, und dort, wo ihre Wirbelsäulen sich berührten, strahlte ihre gemeinsame Körperwärme in die kalte Matratze ab. Irgendwann in der Nacht rollten sie auseinander, und als Rose wach wurde, weil Flossie Hunger hatte, stellte sie fest, dass sie auf der Bettkante lag wie am Rand einer überhängenden Klippe. Gareth war meilenweit entfernt auf der anderen Seite des Betts, und sie hatte das Gefühl, sie würde einen verlängerten Arm oder ein Megaphon brauchen, um ihn zu erreichen.
24
R ose schlief wie ein Stein. Flossie meldete sich nur einmal, und Rose holte sie zu sich ins Bett, drehte sich auf die Seite und ließ sie im Liegen trinken wie ein Ferkel an der Muttersau.
Sie wachte auf, weil sie Anna laut weinen hörte. Gareth lag nicht mehr neben ihr. Panik schnürte ihr die Kehle zu, als sie auf die Uhr sah: halb neun. Sie hatte verschlafen. Sie musste die Kinder zur Schule bringen. Wieso weinte Anna?
Sie sprang auf, schob Flossie in die Mitte des Betts und baute einen Wall aus Kissen, damit sie nicht herausfallen konnte. Sie schnappte sich ihren Kimono, der wieder an seinem Haken hing, und flog förmlich die Treppe hinunter.
»Anna!«
Auf dem Treppenabsatz blieb sie wie angewurzelt stehen. Anna stand schluchzend in der Tür zum Badezimmer. Nico und Yannis waren im Bad und blickten mit morbider Faszination auf etwas herab, das in der Toilettenschüssel schwamm. Hinter Anna, die Hände in die Hüften gestemmt, stand Polly.
Nico, der einen Bleistift in der Hand hatte, bückte sich und stieß das Ding in der WC-Schüssel an.
»Lass ihn in Ruhe!«, schrie Anna, stürzte ins Bad und zerrte Nico von der Toilette weg.
»Anna, was ist denn passiert?«, wollte Rose wissen.
»Sie hat ihn ins Klo geschmissen!«, heulte Anna, drückte sich an Polly vorbei und warf sich Rose in die Arme.
»Wer hat wen ins
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