Angstschrei: Thriller
der Umklammerung befreien. Dann fielen sie beide als eine einzige Masse aus Flanell und Blümchen mit zarten rosa Bändchen an Halsausschnitt und Handgelenken auf das Bett.
» Lass mich los!«, kreischte Abby und versuchte, sich aus Leannas Armen zu lösen. » Lass mich zuschlagen! Lass mich zuschlagen! Damit ich den Wichser umbringen kann!«
Abby kreischte und wand und drehte sich. Leanna warf sich auf Abby und drückte ihr die Arme seitlich gegen den Körper. Abby spürte, wie ihr der Schläger entglitt. » Mein Schläger«, brüllte sie. » Ich hab meinen Tennisschläger fallen lassen!«
» Da ist doch gar kein Tennisschläger.«
» Doch. Der Schläger von Onkel Willis.«
» Da ist kein Schläger!«
» Doch! Da! Ist! Er!«
» Ich kann ihn aber nicht sehen.«
» Du bist eine dicke, fette, verlogene Drecksau!«
» Ich bin dick, und ich bin fett, aber ich lüge nicht. Ich kann ihn nicht sehen.«
Abby lag jetzt regungslos in der Dunkelheit mit Leanna auf ihr drauf. Sie hatte sich beruhigt. Die Stimmen plapperten zwar immer noch durcheinander, aber sie hörte ihnen nicht mehr zu. Aus ihren Augen schossen die Tränen. Manchmal, dachte sie, war Leanna genau wie Wolfe. Genau wie alle anderen. Wenn überhaupt jemand wissen müsste, dass da ein Schläger war, auch wenn sie ihn nicht sehen konnte, dann Leanna. Schließlich war sie doch auch verrückt.
Irgendwann lockerte Leanna ihre Umklammerung. Abby rührte sich nicht. Leanna wälzte sich von ihr. Schließlich war alles ruhig. Die Stimmen waren endlich verstummt, und Abby griff mit einer Hand nach unten auf den Boden und hob Onkel Willis’ Schläger auf. Sie setzte sich auf und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand. Dann zog sie die Knie unter dem Nachthemd an und legte den Tennisschläger quer darüber. Natürlich fragte sie sich, wie er überhaupt hierhergekommen war. Sie hatte das Ding seit Jahren nicht gesehen und war sich ziemlich sicher, dass er eigentlich noch auf der Insel sein müsste. Aber Abby hatte über Jahre hinweg die Erfahrung gemacht, dass Dinge geschahen, die sie nicht verstand oder an die sie sich nicht erinnern konnte, also stellte sie das nicht weiter in Frage.
Sie dachte an Onkel Willis. Er war der große Bruder ihrer Mutter und sah Dinge und hörte Stimmen, die niemand außer ihm sehen oder hören konnte, genau wie sie. Abby hatte gelesen, dass Schizophrenie teilweise erblich war, dass sie sich manchmal durch eine ganze Familie zog, also hatte sie ihre Krankheit wahrscheinlich von ihm. Onkel Willis. Der Wahnsinnige Willis, so nannten die Leute ihn. Meist hinter seinem Rücken, aber manchmal sagten sie es ihm auch ins Gesicht. Das fand Abby gemein. Aber ihm schien es nichts auszumachen, er schien es nicht einmal zu registrieren. Wenn Willis einen seiner, wie Gracie es nannte, » Anfälle« hatte, dann sah er hauptsächlich Fledermäuse. Pelzige, kleine, schwarze Fledermäuse, die ihm ins Gesicht flogen und ihn beißen wollten. Außer ihm sah sie niemand. Nur Willis. Ständig schlug er nach ihnen und bedachte sie mitten auf der Straße mit obszönen Flüchen. Nannte sie haarige kleine Wichser und dreckige schwarze Arschlöcher. Gracie sagte dann immer nur: » Verdammt noch mal, Willis, du sollst nicht so reden, wenn Abby in der Nähe ist.«
Aber er ließ sich nicht davon abhalten.
Diesen Tennisschläger hatte Willis nicht von Anfang an gehabt. Er hatte ihn auf der Müllhalde der Insel entdeckt und mit nach Hause gebracht, ungefähr ein Jahr, bevor er sich umgebracht hatte. Er war unfassbar glücklich über seinen Fund gewesen. Jetzt hatte er etwas, womit er nach den Fledermäusen schlagen konnte. Und es störte ihn auch nicht, dass der Schläger fast keine Saiten mehr hatte. Er benutzte ihn trotzdem. » An deiner Vorhand musste noch a’beiten, Willis«, riefen ihm an lauen Sommerabenden die Betrunkenen vor der Gemeindehalle zu, wenn er an ihnen vorbeikam und nach den Fledermäusen schlug. » Un’ an deinem Aufschlag auch.«
Onkel Willis gab ihnen nie eine Antwort. Er schaute sie nur verwirrt an und schlug weiter um sich. So und nicht anders verbrachte er seine Zeit, bis Abby eines Tages– da war sie acht– die Schranktür ihrer Mutter aufmachte und Willis im Schrank hängen sah. Der Holzschläger lag auf dem Boden zu seinen Füßen. Abby schrie nicht, als sie ihn sah. Sie hatte schon genügend tote Dinge gesehen, um zu wissen, dass Willis tot war. Sie fasste ihn nur einmal an. Der einzige Gedanke, an den sie sich noch erinnern
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