Angstschrei: Thriller
sie attraktiv fand. So alt wie Hank. So alt wie ihr Vertragsrechts-Professor an der Cornell, von dem sie die Eins bekommen hatte, die sie brauchte, um ins Redaktionsteam des Law Review aufgenommen zu werden. Ungefähr so alt, wie ihr Stiefvater heute sein musste.
Lainie hatte in letzter Zeit viel an Albright gedacht, obwohl sie ihn schon seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Und auch jetzt wanderten ihre Gedanken zurück zu der Zeit in dem alten Haus in Rockport. Ungefähr ein Jahr, bevor seine berufliche Karriere Fahrt aufgenommen hatte. Zwei Jahre, bevor er sich von ihrer Mutter scheiden ließ und auszog. Ohne sein Einkommen konnte ihre Mutter das Haus nicht mehr halten. Sie verkaufte es und erwarb von einem Teil des Erlöses das kleinere, schäbigere Häuschen in Rockland. Den Rest legte sie an.
Sie hatte das Gesicht des Dreckschweins jetzt klar und deutlich vor Augen. Des gut aussehenden, brillanten Wallace Stevens Albright. Ein Rechtsanwalt, von seinen Eltern nach einem Dichter benannt, obwohl sie nie einen Menschen mit weniger Poesie in der Seele kennengelernt hatte. Er ließ sich niemals mit Walt oder Wally oder einem anderen Spitznamen ansprechen. Immer nur mit Wallace. Oder Mr. Albright. Lainie war sieben, als er ihre Mutter heiratete und sie bei ihm einzogen. Er wollte, dass sie ihn Daddy nannte. Das hatte sie nie getan, obwohl sie wusste, dass es ihn wütend machte. Aber er war nicht ihr Vater. Er wollte sogar, dass sie seinen Nachnamen annahm, dass sie nicht mehr Goff, sondern Albright hieß. Auch dagegen hatte sie sich gewehrt. Gott sei Dank war ihre Mutter in diesem Punkt auf ihrer Seite gewesen, und so war alles beim Alten geblieben. Sonst hätte Lainie den Namen dieses Drecksacks womöglich immer noch am Hals.
Er legte Wert auf eiserne Disziplin und war ein sturer Perfektionist– Wallace Stevens Albright strebte, wie er selbst sagte, nach Höherem. Lainie verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. Ja, genau. Nach Höherem. Wie zum Beispiel, ihr als Kind bei der kleinsten Verfehlung die Hose herunterzuziehen und den Hintern zu versohlen. Aufgegeilt hatte er sich daran, der Schweinehund. Oh, aber wie selbstgerecht er sich immer aufgeführt hatte. Nie konnte sie ihm etwas recht machen, nie bekam sie ein Lob, ganz egal, wie sehr sie sich bemühte. Und sie bemühte sich wirklich, obwohl sie ihn hasste. Irgendwie erschien es ihr wichtig, ihn für sich zu gewinnen, ihn zu beeindrucken. Wichtig, aber unmöglich. Sie wusste noch, wie sie einmal in der neunten Klasse in einer Algebra-Prüfung fünfundneunzig Prozent richtige Lösungen erzielt hatte. Die halbe Klasse war komplett durchgefallen, sogar viele von den eigentlichen Musterschülern. Als sie ihm stolz davon berichtete, da lachte er sie aus. Ach was, tatsächlich? Fünfundneunzig Prozent? Und was ist mit den restlichen fünf? Als sie an diesem Abend ins Bett ging, fühlte sie sich, als hätte sie versagt. Schon wieder. Scheißkerl.
Dann, mit fünfzehn, ging die richtig kranke Scheiße los. Am Tag, als sie gegen Belfast Fußball gespielt hatten. Lainie machte die Augen zu, und die Erinnerung war sofort wieder da, ganz lebendig. Die zehnte Klasse an der Highschool. An der Camden Regional Highschool, nicht der in Rockland, die sie nach der Scheidung besuchen musste. Es war ein Nachmittag Ende Oktober. Einer dieser kalten, regnerischen Herbsttage, die in Maine den herannahenden Winter ankündigen. Sie hatten ein Auswärtsspiel gehabt, und es hatte mehr oder weniger den ganzen Tag geregnet. Das Spielfeld war eine einzige Schlammfläche gewesen. Die Mädchen rutschten und schlitterten darauf herum, und nach Spielende waren sie alle von Kopf bis Fuß von einer langsam trocknenden, braunen Dreckschicht bedeckt. Lainie schoss zwei Tore und hätte beinahe noch ein drittes erzielt, wäre der Ball nicht vom linken Außenpfosten ins Spielfeld zurückgeprallt. Wenn sie Wallace davon erzählte, das war ihr klar, dann würde er nur den Fehlschuss registrieren. Wenn du ein bisschen härter trainiert hättest, Lainie, vielleicht hättest du’s dann geschafft. Man kann sich immer steigern. Man kann immer danach streben, besser zu werden. Ja, ja, ja. Genau wie du, liebster Daddy.
Nach dem Spiel hatte Annie Jespersons Mom Lainie und einer anderen Freundin, Maddie Mitchell, angeboten, sie nach Hause zu fahren. Die Mädchen hatten das Angebot angenommen. Es war sehr viel bequemer als die Fahrt im Mannschaftsbus, und außerdem wurden sie so nicht erst zur Schule
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