AnidA - Trilogie (komplett)
hungrig sein.« Ida wollte verneinen, aber ihr Magen begann wie auf sein Stichwort heftig zu knurren. Sie erkannte überrascht, dass sie tatsächlich einen Bärenhunger hatte. »Komm zu mir, wenn du gegessen hast, Anida. Ich werde mich bis dahin ein wenig hinlegen, ich bin etwas müde.«
Ida blickte in das faltendurchzogene Antlitz ihrer Tante und erinnerte sich an ihre Worte, dass sie die ganze Nacht über sie gewacht hatte. Ylenia sah wirklich erschöpft aus.
»Ich komme später«, sagte sie entschieden. »Du schläfst dich erst einmal aus, Tante.«
Schwester und Bruder wechselten einen kurzen Blick. Ida sah die stille Erheiterung in ihren Augen darüber, dass das junge Mädchen in einem so bestimmten Ton zu ihr gesprochen hatte.
»Gut, Anida, ich werde tun, was du sagst«, gab Ylenia lächelnd nach. »Aber heute Nachmittag möchte ich dich dann sehen.« Sie schob Vater und Tochter zur Tür hinaus und legte noch einmal kurz ihren Handrücken an Joris' Wange. Er blickte seine Schwester stumm und verständnisvoll an und nickte wortlos. Ida blickte zwischen beiden hin und her und wünschte sich zum ersten Mal in ihrem Leben, mehr über die Familie ihres Vaters zu wissen, als sie bisher darüber erfahren hatte. Vielleicht würde es sich als lohnend erweisen, sich in der nächsten Zeit von Tante Ysabet in den gehassten häuslichen Tugenden unterrichten zu lassen und sie dabei auszufragen.
Ida hatte genug Zeit, über das Gehörte nachzugrübeln und nach und nach auch die Erinnerungen an den vergangenen Tag wiederkehren zu sehen. Ylenia rief sie erst am späten Nachmittag zu sich, als es draußen bereits begann dämmrig zu werden und im Haus die Kerzen und Talglichter entzündet wurden. Ida trat leise in das Gemach ihrer Tante und sah sie wie am vorherigen Tag reglos in dem Lehnstuhl am Fenster sitzen. Das Licht der Lampe spiegelte sich mit dem stillen Gesicht der Weißen Hexe in der Scheibe. Sie erschien dem Mädchen wie eine in Stein gemeißelte Figur, mit Augen wie tiefe Teiche, in denen kein Funke das darin wohnende Leben anzeigte.
»Tante Ylenia?«, sprach Ida sie furchtsam an, als ein zaghaftes Räuspern keine Reaktion bewirkte. Das stille Gesicht wandte sich ihr zu, immer noch maskenhaft starr und kalt, und die Augen blickten fremd und aus weiter Ferne auf das Mädchen nieder. Dann belebte sich die Miene der Hexe. Ein Lächeln kräuselte ihren schönen Mund.
»Anida«, sagte sie warm und hielt Ida ihre Hände hin. Ida ergriff sie und erwiderte den herzlichen Druck. Sie ließ sich von Ylenia auf den Schemel zu ihren Füßen niederziehen und lehnte sich vertrauensvoll an ihre Knie. Sie blickte zu ihrer Tante auf und wartete auf die Erlaubnis, ihr all ihre Fragen stellen zu dürfen.
Ylenia verbarg ihre Hände in den weiten Ärmeln ihres Gewandes und neigte grübelnd den Kopf. Aus ihrem unordentlich aufgesteckten Haar hatten sich einige schwarze und weiße Strähnen gelöst und hingen ihr nun in weichen Kringeln in die Stirn.
Ida durchforschte ihr Gesicht wie eine fremde Landschaft, ihre Augen wanderten geruhsam über die hohen Wangenknochen, die dunklen, strengen Brauen über den Augen, die im weichen Schein des Talglichtes von einem intensiven Bernsteinton waren, die schmale Nase hinab zu dem breiten, schön geschwungenen Mund mit den vollen Lippen und über das willensstarke Kinn. Sie erkannte beinahe verwundert, dass ihre Tante eine schöne Frau war. Nicht im höfischen Sinne – diesem Ideal entsprach weit eher ihre Schwester Amali mit ihrem weichen, runden Gesicht und den großen naiven Augen –, sondern in einem anderen, weit umfassenderen Sinne. Ida hatte noch nie zuvor darüber nachgedacht, was Schönheit eigentlich bedeutete, und vor allem, wer wohl bestimmen mochte, was als schön zu gelten hatte. Sie nahm sich vor, sich damit einmal gründlicher zu befassen.
Die Augen ihrer Tante ruhten mit stiller Erheiterung auf ihr, und Ida errötete leicht. »Und, glaubst du, dass du mich wieder erkennen wirst, wenn wir uns morgen beim Frühstück sehen?«, neckte Ylenia sie. Ida wurde noch etwas roter im Gesicht. Ylenia streichelte ihre Wange und umfasste dann wie Halt suchend das Schmuckstück auf ihrer Brust. »Was hast du heute Morgen alles mitgehört?«, fragte sie nüchtern und ohne Vorwurf.
Ida biss sich auf die Lippe und schlug die Augen nieder. »Alles, glaube ich«, murmelte sie beschämt.
»Gut, das erspart es mir, es noch einmal durchkauen zu müssen. Anida, ich wollte nicht, dass dir etwas
Weitere Kostenlose Bücher