AnidA - Trilogie (komplett)
dich lieber hin.«
Anna schüttelte den Kopf. »Das ist nicht schwierig. Wenn ich unten am Kai bin, weiß ich schon Bescheid.« Sie winkte ihm zu und blieb noch einmal stehen, als er »Warte!« rief und zurück ins Haus rannte. Kurz darauf kam er wieder, drückte ihr einen rot geflammten Apfel in die Hand, murmelte verlegen »Wegzehrung!«, und verschwand schnell wieder durch die Tür, ehe sie über sein ebenso rot flammendes Gesicht lächeln konnte.
Anna lächelte wirklich, allerdings eher gerührt, und biss in die Frucht, kaum dass sie um die Ecke gebogen war. Der Apfel war süß und so reif, dass sie den Saft von den Fingern leckte. Sie musste an Sendra denken und die großen Apfelbäume, die dort im Garten wuchsen. Plötzlich erfasste sie Heimweh, ein Gefühl, das sie schon so lange nicht mehr verspürt hatte, dass es ihr ganz seltsam und fremd erschien. Sie war schon so lange Zeit nicht mehr zu Hause gewesen, dass die Bilder zu verblassen begannen. Wie hatte das Zimmer ihrer Eltern ausgesehen? Sie wusste es kaum noch. Ihre eigene Kammer war klein gewesen und hatte unter dem Dach gelegen. Im Sommer war es dort so heiß gewesen, dass sie immer im Garten geschlafen hatte; die alte Köchin hatte ihr oft eins der Küchenmädchen mit etwas Naschwerk geschickt, damit ihre kleine Anna nicht verhungerte. Ihre Großmutter war manchmal in aller Frühe auf nackten Füßen durch das taufeuchte Gras zu ihr gekommen, hatte sich neben sie in die frühe Sonne gesetzt und wie Anna dem lauten Morgengruß der Vögel gelauscht.
In solche Erinnerungsbilder versunken und mit einem leisen Lächeln auf dem Gesicht, fand Anna beinahe traumwandlerisch ihren Weg durch das Hafenviertel. Erst vor der Tür des schmalen, krummen Häuschens, das ihr Ziel war, wachte sie aus ihren Träumereien auf und erinnerte sich unsanft an den Grund ihres Hierseins. Beklommen hob sie die Hand, um anzuklopfen, und ihre Knöchel hatten kaum das rissige Holz der Tür berührt, als von drinnen die Stimme der Krähe erklang: »Tritt ein, Anadia. Ich habe dich schon erwartet.«
Anna tastete sich wie bei ihrem ersten Besuch durch den finsteren Gang und den kleinen Raum dahinter und betrat die Küche. Niemand war darinnen, aber als sie sich umblickte, sah sie draußen in dem winzigen Gärtchen die dunkle Frau über etwas gebeugt, was sie in der Hand hielt. Ihre Lippen bewegten sich nicht, aber die Haltung ihres Kopfes wirkte auf Anna, als spräche sie mit jemandem.
Wie hat sie mich hereinbitten können, wenn sie dort draußen im Garten steht?, fragte Anna sich verdutzt, aber der Gedanke verschwand wie ein Blütenblatt im Wind, als die Krähe nun ihre Hände hob und ein kleiner, schwarz schillernder Vogel – ein Star? – sich daraus erhob und davonflog. Die Frau sah dem Vogel noch eine Weile nach, dann wandte sie den Kopf, blickte Anna durch das Fenster an und winkte ihr auffordernd zu.
Anna trat durch eine schmale Tür in den winzigen Garten hinaus. Sie hatte erwartet, draußen von dem gewohnten Geräuschteppich empfangen zu werden: Kindergeschrei, bellende Hunde, klappernde Töpfe und streitende Nachbarn, das Hämmern aus der Hufschmiede, an der sie vorbeigekommen war – eben all die alltäglichen Geräusche der engen Nachbarschaft in einem Viertel.
Doch es war still, als hätte jemand der Stadt befohlen, den Atem anzuhalten. Sie vernahm deutlich das Flüstern des Laubs an den Zweigen der Bäume und das Knistern des trockenen Grases unter ihren Füßen. Ein Vogel zwitscherte leise und träge und verstummte bald wieder. Die Krähe stand reglos in der Mitte des Gärtchens und sah ihr entgegen. Im hellen Licht des Tages sah sie älter aus, als Anna sie von ihrer ersten Begegnung in Erinnerung hatte. Müde Linien durchzogen das herbe Gesicht, aber ihre Bewegungen, mit denen sie jetzt Annas Hand nahm, bewiesen große Kraft und Energie. Anna ließ die prüfende Musterung der leuchtend schwarzen Augen über sich ergehen, doch nach einer Weile entzog sie sich dem festen Griff der breiten Hand und trat einen Schritt zurück.
»Du hast lange gebraucht, um wieder hierher zu finden«, sagte die Krähe mit sanfter Belustigung.
»Ich bin gekommen, weil ich Eure Hilfe benötige«, kam Anna ohne Umschweife zur Sache. Sie berichtete von Korbens Verschwinden und Mikas Vermutung, wo er möglicherweise festgehalten wurde. Die Krähe lauschte, ohne sie zu unterbrechen.
»Und wie soll ich euch jetzt helfen?«, fragte sie, nachdem Anna geendet hatte.
»Das war eigentlich
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