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Anidas Prophezeiung

Anidas Prophezeiung

Titel: Anidas Prophezeiung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Gerdom
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war unvorhergesehen in wichtigen Angelegenheiten des Ordens abberufen worden, wie eine der freundlichen, aber reservierten Bediensteten ihr am nächsten Morgen ausgerichtet hatte. Also schickte sich Ida in die aufgezwungene Tatenlosigkeit. Bis der anhaltende Schneefall es ihr unmöglich machte, durchstreifte sie die Umgebung des Ordenshauses und wagte sich sogar an eine zweitägige Expedition, die sie ein Stück in die Berge führte.
    Dann setzte das heftige Schneetreiben ein, das sie ans Haus fesselte. Sie entdeckte die Bibliothek des Ordens und bat eine der älteren Frauen, die dort über alten Schriftrollen saßen, um die Erlaubnis, sich etwas zu lesen auszuleihen. Es wurde ihr mit aller Freundlichkeit von der Leiterin des Archives genehmigt, wobei diese Ida darum bat, sie bei jedem Buch erst einmal zu fragen, da einige davon nicht für die Augen einer Nichteingeweihten gedacht waren. Ida fand zwischen all den geschichtlichen und naturkundlichen Werken auch einen Band mit Überlieferungen der Grennach, den sie begeistert an sich nahm. Die Archivarin erzählte ihr, dass dieses Buch eine Rarität sei: aufgezeichnet vor Generationen von einer Angehörigen der Weißen Schwesternschaft, die jahrelang zwischen den Nestern gereist war und sich die Erzählungen des Grennach-Volkes angehört hatte.
    Ida vertiefte sich in den Band, der in altertümlicher Schrift und Sprache abgefasst und nicht leicht zu entziffern war. Sie entdeckte auch jene Sage wieder, die Mellis ihr vor Jahren erzählt hatte, und staunte darüber, dass sie in diesem Buch, soweit sie sich daran erinnern konnte, nahezu mit den selben Worten aufgezeichnet war. So vertrieb sie sich die Wartezeit, während ihre Ungeduld mit jedem verstreichenden Tag wuchs.

    Ylenia und ihre Eskorte trafen zu Tode erschöpft und dem Erfrieren nahe während eines heftigen Schneesturms in der fünften Woche nach Idas Ankunft wieder im Ordenshaus ein. Ida machte sich auf eine weitere ermüdende Spanne des Wartens gefasst, doch schon am nächsten Vormittag ließ Ylenia sie zu sich rufen. Ida trat in das Gemach, das von einigen Wachslichtern und dem flackernden Kaminfeuer heimelig erleuchtet war, und fand ihre Tante in eine Pelzdecke gewickelt vor dem Kamin, ihre weiße Katze auf den Knien. Sie streckte Ida die Hände entgegen und ließ sich von ihr umarmen. Dann zog Ida sich den zweiten Lehnstuhl heran und streckte die Füße zum Feuer hin.
    Ylenia sah immer noch erschöpft aus, aber ihre Augen funkelten lebhaft, als sie Ida anblickte. »Verzeih mir, Kind, ich war dir eine schlechte Gastgeberin«, sagte sie lächelnd. »Sich einfach grußlos davonzumachen und dich hier zurückzulassen!«
    »Entschuldige dich nicht, bitte. Man hat mir gesagt, du seist in wichtigen Angelegenheiten fortgerufen worden.«
    Ylenia blickte in die tanzenden Flammen des Kaminfeuers und streichelte mit besorgter Miene die schläfrig aus goldenen Augen blinzelnde Katze auf ihrem Schoß. »Das ist richtig. Ich musste mich dringend mit Hochmeister Gareth beraten, deshalb bin ich über den Pass hinüber nach Falkenhorst geritten. Und von dort zur Grenze ...« Ihre Stimme verklang. Sie starrte grübelnd ins Feuer. Dann schien sie die düsteren Gedanken abzuschütteln, die sie belasteten. Sie zeigte Ida ihr wieder lächelndes Gesicht und nickte ihr auffordernd zu. »Jetzt bist du endlich an der Reihe, meine arme geduldige Ida. Erzähl, was hat dich hierher geführt?«
    Ida hielt sich nicht mit langen Erklärungen auf. Sie holte schweigend das eingewickelte Schmuckstück hervor und reichte es ihrer Tante. Ylenia schlug die Umhüllung beiseite und blickte fassungslos auf das Herz des Feuers nieder. Sie saß lange so da, reglos in den Anblick des Kleinods versunken, das sein Feuer blitzend durch das Gemach schickte.
    Endlich tat Ylenia einen tiefen Atemzug, als erwachte sie aus einem langen Schlummer, und hob den Blick. Ida sah voller Staunen, dass Tränen in den Wimpern der Weißen Hexe hingen. Ylenia bat sie stumm um eine Erklärung, und Ida erzählte ihr leise von dem Nachmittag im alten Obstgarten von Sendra. Ylenia lauschte, ohne sie zu unterbrechen, und dann schüttelte sie ratlos den Kopf. Ihre schmalen Finger schlossen sich voller Ehrfurcht um das Herz aus Feuer, von dem sie, während Ida sprach, keinen Moment die Augen gewandt hatte. Ihre Katze warf Ida einen rätselhaften Blick zu und begann sich mit einer blassrosa Zunge das schneefarbene Fell zu lecken.
    »Ich verstehe es nicht«, sagte Ylenia leise.

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