Anidas Prophezeiung
sicher und geborgen fühlst.«
Ida tat einen tiefen, zitternden Atemzug und nickte nach einer Weile. Um sich herum spürte sie wie einen schützenden Arm die warme, ruhige Stille der Ställe von Tel'krias. Sie roch den schweren, etwas scharfen Geruch der Tiere. Fast meinte sie, den sanften Atem der Pferde und hin und wieder das schläfrige Muhen einer Kuh zu vernehmen.
»Gut, Ida. Öffne jetzt deine Augen und blicke in die Schale. Denk daran, ich beschütze dich.« Ida tat, wie ihr geheißen wurde. Sie senkte den Blick in die funkelnde, endlose Tiefe der Kristallschale. »Was siehst du?«, fragte Ylenia.
Ida öffnete willenlos den Mund und murmelte: »Nichts – ich sehe – nichts ...« Ein Flattern von Schwingen und ohrenbetäubendes Gekreisch war um sie herum. Die Flügel machten sie blind, und das Schreien der Vögel betäubte ihre Sinne. Weiche Federn strichen über ihr Gesicht und ihren Körper. Sie breitete die Arme aus und lachte vor Freude laut auf. In großen, gleichmäßigen Kreisen zog sie über dem Gipfel dahin. Weit unter sich sah sie eine kleine Gruppe von Menschen, die sich schwerfällig durch den Schnee kämpften. Sie stieß neugierig hinab und erkannte ohne Überraschung, dass ein kleiner dürrer Mann und eine alte Grennach ihre eigene, leblose Gestalt auf einem improvisierten Schlitten durch den tiefen Schnee zogen. Sie verlor schnell das Interesse an dem ermüdenden Schauspiel und stieg in einer warmen Strömung wieder empor.
Hoch, immer höher. Die vom ewigen Schnee bedeckten Gipfel der Berge blieben weit unter ihr zurück. Die Luft wurde dünner und immer eisiger. Bald begann das tiefe Blau über ihr einem bedrohlichen Violett zu weichen, das in die Schwärze der Nacht überging. Sterne funkelten bleich auf sie herab, und sie stieg immer noch. Ihre Lungen rangen vergeblich nach Luft. Die Sinne begannen ihr zu schwinden, aber sie stieg weiter. Um sie war Gesang, höher, als es menschlichen Stimmen möglich war, und beinahe schmerzhaft in ihre Ohren stechend. Sie öffnete den Mund, um die Sängerinnen zu rufen, und ahnte die kaum hörbare Antwort auf alle ihre Fragen.
Höher, dachte sie verbissen. Ich muss noch höher, dann kann ich sie besser hören. Sie verdoppelte ihre Anstrengungen, aber ihre kräftigen Schwingen waren plötzlich wieder Arme, die nutzlos durch die luftlose Atmosphäre pflügten. Mit einem lautlosen Schrei des Entsetzens begann sie den langen Weg zur Erde zurückzustürzen.
Ida fand sich in den Armen ihrer Tante wieder, die mit aufgerissenen Augen auf sie herabsah. Sie fühlte immer noch den rasenden Fall in ihrem Körper. Ihr Blick verschwamm, als sie begann, das Bewusstsein zu verlieren. Starke Hände zwangen ihren Kiefer auf. Eine bittere, scharfe Flüssigkeit rann durch ihre Kehle. Hustend und spuckend richtete sich Ida auf und schob die Hand mit dem Becher beiseite. »Widerlich«, hörte sie sich durch das Summen in ihren Ohren keuchen.
»Ich bringe dich zu Bett«, sagte die besorgte Stimme ihrer Tante. Idas Augen fielen zu. »Ich habe es schon wieder verdorben, Kind. Bei den Schöpfern, du musst mich hassen.«
»Dummes Zeug«, murmelte Ida und schlief ein.
Ylenia saß lesend neben ihrem Bett, als sie wieder aufwachte. Das unbestimmte graue Licht, das durch das Fenster fiel, ließ weder Rückschlüsse auf die Tageszeit zu, noch darauf, wie lange Ida geschlafen hatte. Sie reckte sich und knurrte zufrieden. Sie fühlte sich wohler als seit langer Zeit. Ylenia ließ ihr Buch sinken und sah freundlich besorgt auf sie herab. »Wie geht es dir?«
»Wunderbar, danke«, erwiderte Ida etwas erstaunt. »Was machst du eigentlich hier?«
Die Hexe runzelte die Stirn. »Du erinnerst dich nicht?«, fragte sie behutsam und ein wenig enttäuscht. »Das wäre schade, weil ich dir aus irgendeinem Grund nicht in die Schale habe folgen können.« Die Schale. Ida ließ sich in die Kissen zurücksinken und die Erinnerungen über sie herfallen wie eine hungrige Meute Wölfe. Ylenia sah sie erwartungsvoll an.
»Süßer Iovve«, hauchte Ida. Dann begann sie stockend von ihrer Vision zu erzählen. Ylenia lauschte konzentriert mit in die Hand gestützter Stirn.
»Jetzt sind wir nicht viel klüger als vorher«, sagte sie schließlich enttäuscht. Dann schüttelte sie ungeduldig den Kopf und rief sich selbst zur Ordnung. »Das stimmt nicht. Ich verstehe es nur noch nicht, das ist alles. Es ist immerhin sehr interessant, dass ich dir wieder nicht habe folgen können. Wir werden das nicht
Weitere Kostenlose Bücher